Es ist gerade dreißig Jahre her, da gehörten Papier, Kugelschreiber, Schere und Klebstoff zu den wichtigsten Utensilien eines guten Schachspielers. Die Bundesligaspieler des Hamburger Schachklubs von 1830 trafen sich damals in Hamburg-Lokstedt im Keller ihres Trainers Gisbert Jacoby und schnitten Partien aus Schach-Zeitschriften aus.

Jacoby hatte rund 20 Magazine aus aller Welt abonniert. Seine Schach-Bibliothek gehörte zu den größten in Deutschland. Wenn irgendwo eine interessante Partie gespielt war, in der Eröffnung eine neue Idee ausprobiert worden war, Jacoby entging (fast) nichts. Der Informationsfluss war jedoch zäh. Im Durchschnitt dauerte es ein halbes Jahr vom Spielen der Partie bis zur Dokumentation des Geschehens. Alle wichtigen Spiele wurden auf Karteikarten geklebt, über die interessantesten Spieler Dossiers angelegt.

Vergangenheit. Im Computerzeitalter sind die Großmeister live im Internet dabei, wenn ihren Kollegen etwas Neues einfällt. Das Archiv ist elektronisch, der Zugriff erfolgt binnen Sekunden. Das Schachspiel hat sich dadurch in den letzten zwanzig Jahren rasant entwickelt. Hielt sich die Zahl der neuen Ideen früher in bescheidenen Grenzen, sprudeln die Einfälle jetzt. Die Elektronengehirne sind dabei zur wichtigsten Quelle des menschlichen Hirns geworden.

Brüteten einst viele starke Spieler über einer Position, prüften sie teilweise tagelang, diskutierten Varianten und Einschätzungen, erledigt das heute der Kollege Computer in Minuten. Das hat das Schachspiel demokratisiert, weil die Kosten der Schöpfung bezahlbar wurden. Nicht umsonst war die Phalanx der sowjetischen Großmeister nach dem Zweiten Weltkrieg kaum zu stoppen. Sie arbeiteten in staatlichen Zirkeln, die Spitzenspieler hatten Tausende von Zuträgern im ganzen Land, in dem Schach Volkssport war. Entstand eine neue Idee und erwies sie sich als Verstärkung gegenüber der bisherigen Spielführung, wurde festgelegt, wer sie als Erster am Brett benutzen darf. Das Privileg gebührte meist dem Weltmeister.

Gegen diese Informationsnetze, diese Manpower hatten die weitgehend auf sich allein gestellten westlichen Großmeister selten eine Chance. Genies wie der US-Amerikaner Bobby Fischer oder der Kölner Großmeister Robert Hübner bildeten da die wenigen Ausnahmen. Auch sie hatten ihre Helfer, ihre Zahl blieb jedoch überschaubar. Heute arbeiten Spitzenspieler wie die Weltmeister Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik über das Jahr hinweg nur mit eins, zwei Leuten regelmäßig zusammen. Beim WM-Match in Bonn stehen beiden jeweils drei Sekundanten Tag und Nacht zur Seite. Die waren im vergangenen halben Jahr zudem in die Matchvorbereitung von Kramnik und Anand eingebunden. Im Vorfeld galt es, den Spielstil des Konkurrenten zu analysieren, Schwachstellen im Eröffnungsprogramm zu finden und vor allem neue Ideen zu generieren.

Wie das gemacht wird, hat der Hamburger Großmeister Jan Gustafsson einmal sarkastisch beschrieben: "Am einfachsten ist es, in jeder Stellung jeden theoretisch spielbaren Zug in den Computer einzugeben und ihn dann rechnen zu lassen. Dann schaut man sich nach einer Weile an, zu welchem Ergebnis er gekommen ist. Diesen Prozess nennt man heute kreativ."

Gustafsson gilt als Zyniker. Weil die Fülle der Möglichkeiten am Schachbrett in die Abermilliarden geht, bräuchten selbst die schnellsten Rechner Jahrzehnte, um alle denkbaren Varianten zu kalkulieren. Am Anfang der Analyse steht deshalb immer noch die menschliche Idee. Die aber lässt der Großmeister von seinem besten Freund und Helfer intensiv prüfen. Computer wie "Rybka" oder "Fritz" der Hamburger Firma ChessBase sind heute längst die Könige des Schachs. Selbst die Besten haben gegen sie keine Chance mehr. "Man muss aber ein Gleichgewicht bei der Arbeit mit dem Computer finden", hat Kramnik im Vorfeld des WM-Kampfes gesagt, "blindes Vertrauen in die Rechenkraft der Maschine tötet jegliche Kreativität. Wir müssen lernen, den Computer zu steuern. Dann ist er vom hohen Nutzen."

Nach den ersten fünf Partien bleibt festzustellen, dass offensichtlich Anand und sein Team die neuen technischen Möglichkeiten besser genutzt haben. Die beiden Siege Anands in der dritten und fünften Partie basierten auf einer glänzenden Vorbereitung der gespielten Eröffnungsvariante. Kramnik und seine Mannschaft waren diese neuen Ideen entgangen. Dieser Nachteil war unter Wettkampfbedingungen nicht zu kompensieren. Beide Spieler haben für ihre ersten 40 Züge zwei Stunden Bedenkzeit, im Durchschnitt drei Minuten pro Zug. In diesem engen Zeitfester lassen sich komplexe Probleme am Brett nur selten vollständig lösen. Denn dort ist der Mensch mit sich und seinen Gedanken allein. Kramnik, und das ist ein Beweis seiner Klasse, konnte trotz des Wissensvorsprungs seines Konkurrenten die beiden Partien lange offen halten bis ihm in Zeitnot dann doch der entscheidende Fehler unterlief. Den WM-Titel scheint er damit verloren zu haben. Er ist ihm aber nicht in Bonn abhanden gekommen, sondern in den Monaten zuvor. Das ist die Tragik eines großen Schachspielers im Computer-Zeitalter.