Vier Straßen für 800 Einwohner. Seit 2009 steht der Poliscan Speed F1, eine grau-schwarze Säule mit Lasertechnik, am Cranzer Hauptdeich.

Am Cabo de São Vicente verkaufen sie die letzte Bratwurst vor Amerika. Eine ähnliche Idee wäre in Cranz nicht abwegig. Der letzte Hamburger Apfel vor Neuwerk etwa oder der letzte Stadt-Stint vor Stade. Der kleine Stadtteil ist jedenfalls für Hamburg, was das portugiesische Cabo de São Vicente für Festland-Europa ist: die abgelegene südwestliche Spitze. Dahinter beginnt Niedersachsen.

Im Winter, wenn die Tagestouristen noch fern sind, werden Fremde in Cranz erkannt. Quirlig geht anders. Hip auch. Vier Straßen reichen für nicht mal 800 Einwohner. Ein dörflicher Charakter prägt das Örtchen, das sich bei genauer Betrachtung dreigeteilt zeigt: Da ist die Weite am Deich, die Enge im historischen Ortskern und die schmucklose 70er-Jahre-Arbeitersiedlung am Estebogen. Angestellte der nahen Sietas-Werft in Neuenfelde wohnten und wohnen hier. Zumeist türkischstämmige Nachbarn, die akzeptiert sind, den "alten" Cranzern aber fremd blieben. Trotz freundlicher Grüße ist der Estebogen eine eigene Welt.

+++ Zahlen & Fakten +++

+++ Kurz & knapp +++

+++ Name & Geschichte +++

+++ Bekannte Söhne +++

Cranz selbst geht es innerhalb Hamburgs nicht anders. Seine Lage, von Este und Elbe umflossen, macht den Stadtteil zu einer Scholle. Nur die Fußgängerbrücke am Alten Este-Sperrwerk und das 1968 eröffnete neue Sperrwerk verbinden Cranz mit der Stadt.


Tor zum Alten Land

Wer über das mächtige, weithin sichtbare Este-Sperrwerk fährt, vergewissert sich jedenfalls zwangsläufig, ob er noch in Hamburg ist. Die Mündung der Este bildet seit Jahrhunderten eine natürliche Grenze zwischen der zweiten und dritten Meile des Alten Landes. Geografisch könnte Cranz leicht als Teil Niedersachsens gesehen werden. Optisch ohnehin, wenn im Frühjahr die Blütenpracht der Obstbäume für Entzücken sorgt. Schwedisch, dänisch und preußisch war der Ort schon, bevor er 1937 Hamburg zugeschlagen wurde. Wo jahrhundertelang die wichtige Fährverbindung nach Blankenese den Status einer frühen Elbbrücke genoss, öffnet sich seitdem Hamburgs Tor zum Alten Land. Die Flächen am südlichen Elbufer werden seit 1135 für den Obstanbau kultiviert. Im Hinterland der Cranzer Deichhäuser stehen etliche Apfelbäume. "Wir sind Altländer in Hamburg", sagt der promovierte Historiker Boy Friedrich. "Und Hamburg haben wir uns nicht ausgesucht."

Allzu lang sollten sich Besucher, die mit dem Auto kommen, ohnehin nicht mit der Zugehörigkeitsfrage beschäftigen, sonst geraten sie in den modernsten Blitzer Hamburgs. Seit 2009 steht der Poliscan Speed F1, eine grau-schwarze Säule mit Lasertechnik, am Cranzer Hauptdeich. Nachdem sich die Unfälle am Abzweig zum Ortskern mehrten, wurde die wirksame Raserwaffe angeschafft. Abgesehen davon gibt es aber wenige Probleme mit Grenzüberschreitungen. Dafür sorgt auch ein eigener Polizeiposten am Estedeich 95. Dort arbeitet der Ortssheriff nicht nur, er wohnt auch im Haus.

Hier sendet Delta Papa Null 7

Gegenüber der Polizei erhebt sich das höchste Gebäude, die alte, leer stehende Schule. Zum Bedauern vieler Einwohner gibt es kein Nutzungskonzept für den historischen Backsteinbau. Dafür reihen sich entlang des engen, kurvenreichen Estedeichs, der Keimzelle des Dorfes, fast durchgängig bewohnte Fachwerkhäuser an Gründerzeitfassaden. Die teils üppig verzierten Gebäude zeugen vom ehemaligen Wohlstand ihrer Besitzer. Neben dem Obstanbau blickt der Ort vor allem auf Ziegelproduktion, Schweinemast, Fischfang und Schiffbau zurück. "Deshalb ist Cranz kein klassisches altländisches Dorf", sagt Boy Friedrich. Der Ort richte sich ebenso stark am Wasser aus. Aus Cranz sendet etwa Reiner Dietzel den Seefunkdienst "Delta Papa Null 7" (DP07) als Nachfolger des Norddeich Radios für den Yachtsport auf Nord- und Ostsee. Er versorgt Segler mit Wetterberichten und funkärztlicher Beratung.

Das Wasser von Elbe und Este verhalf Cranz aber nicht nur zu einer herausgehobenen Stellung als Fährort - im Mittelalter wurden hier Ochsen von Nord nach Süd gebracht. Das Wasser barg auch Tücken. Urenfleth, die Vorgängersiedlung von Cranz, wurde von einer Sturmflut dahingerafft. Und auch Cranz traf es bei der verheerenden Flut im Jahr 1962 hart, wie ein Relief am Cranzer Hauptdeich zeigt. Seitdem schützen das riesige Este-Sperrwerk und ein neuer Elbdeich den Stadtteil nicht nur besser vor Wassermassen, sie verschafften dem sonst eher flachen Gebäude-Ensemble auch zwei prägnante Landmarken.

Ein Herz aus Narzissen

Überhaupt: die Deiche. Cranz ist ein kleines Deichreich. Die Flüsse bestimmen Straßenverlauf und Lage der Häuser. In wilden Schwüngen schlängeln sich Este und die enge Hauptstraße durch den Stadtteil, vorbei an den beliebten Ausflugslokalen Zur Post und Altes Fährhaus. Laut Handelskammer ist das Gasthaus Zur Post die älteste in Familienbesitz gebliebene Gaststätte Hamburgs. Die Tradition reicht bis ins Jahr 1724 zurück. In den Restaurant-Gärten kann man prima Kuchen oder Fisch essen und dabei aufs Wasser blicken. Gleich nebenan legt die Fähre nach Blankenese ab.

Grundstücke mit einem eigenen Bootsanleger sind hier eher Regel als Ausnahme, selbst wenn die einst ansässige Cranzer Dampfschifffahrtsgesellschaft oder die ortseigene Hamburg-Blankenese-Este-Linie Geschichte sind. Außer einem Schuhladen und einem Autohändler ist nicht viel Gewerbe geblieben. Zum Einkaufen fahren Cranzer nach Finkenwerder, Buxtehude oder auch nach Jork.

Die Bushaltestelle des Ortes ist demnach ein wichtiger Anker zur Außenwelt, wo sich die beiden Cranzer Katja Skudelny und Thomas Steinbrecher im Oktober 2003 ein charmantes Denkmal gepflanzt haben. Seither blüht mitten in der Deichwiese das "Herz von Cranz" - ein Herz aus Narzissen. Gleich gegenüber dem gelben Blumenherz wohnten die Guerilla-Gärtner, in einem der wenigen modernen Bauwerke in Cranz. Bei diesem Wohnhaus spricht der Volksmund vom "Schlüsselloch", in seiner Formsprache erinnert es aber auch an Angela Merkels Berliner Schaltzentrale, es ist gewissermaßen: das "Cranzleramt".

+++ Der Stadtteil-Pate: Nico Binde +++

In einer so überschaubaren Umgebung kennen sich fast alle. Häuser werden vererbt, Neubürger, einmal integriert, als Impulsgeber verstanden. Und wenn die einzigartige Dorfstraße nicht zu einer gesichtslosen Durchgangsstraße oder das Alte Este-Sperrwerk barrierefrei umgebaut werden soll, rücken die Cranzer zusammen, um sich für ihren Stadtteil einzusetzen: alle für einen. Das abgelegene Cranz hat nicht nur eine Grundschule, einen Sportplatz und eine Theatergruppe namens Stippvisite. Ein Dorf weiter gen Süden liegt auch der royalste Nachbar Hamburgs: Cranz ist der letzte Stadtteil vor der Ortschaft Königreich.

In der nächsten Folge am 4.8.: Bergedorf