Harburg. Immer wieder macht das Quartier in Harburg Schlagzeilen. Vor allem durch Gewalttaten. Doch die Bewohner lieben ihr Viertel. Ein Besuch.
- Immer wieder Gewalt an der Wilstorfer Straße: Doch das Viertel hat viele gute Seiten
- Viele Kinder, ruhige Straßen: Der Kontrast zur lauten Kneipenmeile
- Das Quartier ist Heimat von 9500 Menschen
- Nach der jüngsten Schießerei war der Polizeipräsident vor Ort
370 mal 330 Meter, elf Straßen, 16 Blocks, 9500 Bewohner – und wahrscheinlich ein paar Ungezählte. Das sind die Eckdaten des Phoenix-Viertels im Herzen des Hamburger Stadtteils Harburg. Verrufen war das alte Arbeiterquartier beim bürgerlichen Teil der Harburger Bevölkerung schon immer, doch in letzter Zeit häuften sich die Negativschlagzeilen: Gewalt, Glücksspiel, Drogen und Waffen bestimmen das Bild, das Außenstehende vom Viertel haben.
Stimmt das? Oder lassen sich bei konservativen Kunden Schauergeschichten – zumal, wenn sie die eigenen Vorurteile bestätigen – einfach besser verkaufen? Die Abendblatt-Autoren Lars Hansen und André Lenthe sind seit ihrer Jugend regelmäßig im Phoenix-Viertel unterwegs. Keiner der beiden wurde hier jemals angegriffen, ausgeraubt oder sogar verletzt. Es gibt tatsächlich Probleme im Viertel. Im Elend gefangen ist hier jedoch niemand. Die meisten Bewohner des Phoenix-Viertels leben gerne hier. Umso mehr ärgert sie das negative Bild ihres Stadtteils.
Phoenix-Viertel in Harburg: Von 9500 Bewohnern sind höchstens 100 kriminell
Von den 9500 Bewohnern des kleinen Quartiers sind höchstens 100 kriminell; vielleicht ein Dutzend ernsthaft. Bleiben 9400 Männer, Frauen und Kinder, die eigentlich nur eines wollen: In Ruhe klarkommen. Menschen, wie Hausmeister Sönke Hansen, Buchhalter Nazim Capa, Kioskfrau Marie Kurtz oder Löwenhaus-Kind Ahmed.
„Es gibt einige Ecken im Viertel, die ich vielleicht nicht schön finde, aber hier habe ich meine Kunden und meine Nachbarn und wir gehen alle nett miteinander um. Die Leute kommen gern zu mir, und ich bin gern für sie da.“
Die Maretstraße ist so etwas wie die Beletage des Phoenix-Viertels. Ihre Westseite zählt streng genommen gar nicht mehr zu dem Quartier, aber streng sieht das hier niemand. Gefühlt reicht das Phoenix-Viertel bis zu dem grünen Band aus Sportplatz und altem Friedhof, und auch die Nordgrenze an der Kalischerstraße steht nur im Bebauungsplan. Die echte Nordgrenze verschwimmt zwischen Harburg-Carrée und Maretstraße. In der abschüssigen Topographie des Viertels liegt die Maretstraße ganz oben. Parallel verlaufen Beckerberg, Eddelbüttelstraße, Lassallestraße und Wilstorfer Straße; jede ein Stück weiter den Hang hinunter, in Nord-Süd-Richtung.
Marie Kurtz wohnt und arbeitet in der Maretstraße. Im Herzen Harburgs, sozusagen
Ganz oben an der Maretstraße hat Marie Kurtz ihren Kiosk und ihre Wohnung. Für viele Bewohner des Viertels ist sie so etwas wie die gute Seele des Quartiers. Seit 33 Jahren lebt die in Gera geborene Frau im Phoenix-Viertel – und sie will hier nicht weg. „Es gibt einige Ecken im Viertel, die ich vielleicht nicht schön finde, aber hier habe ich meine Kunden und meine Nachbarn und wir gehen alle nett miteinander um. Die Leute kommen gern zu mir, und ich bin gern für sie da.“
Wenn nicht gerade ganz fieses Wetter ist, sind die zwei Stehtische vor dem Kiosk eine Art Quartierstreffpunkt, an dem die Nachbarn sich auch mal Zeit für eine Tasse Kaffee und einen Klönschnack nehmen. Probleme mit Herumlungern hat Marie Kurtz keine. „Ich habe von vornherein auf das Sortiment geachtet und bestimmte Dosenbiermarken, Tabaksorten und Schnäpse nie hier verkauft, die bei der Problemklientel beliebt sind“, erklärt sie das Phänomen.
Phoenix-Viertel-Kiosk: Großes Sortiment, handgeschriebene Preislisten, lächelnde Dame
Statt schräger Vögel fühlen sich auch Eltern mit ihren Kindern hier wohl und essen das Eis, das sie hier kaufen auch gern mal vor Ort: vor dem kleinen Fenster mit dem großen Sortiment und den handgeschriebenen Preislisten und natürlich der lächelnden Dame hinter der Fensterbank. „Der magische Kiosk“ hat ein Kind das Geschäft mal genannt. Marie Kurtz überlegt, daraus ein Schild zu machen.
Ungebetene Gäste hatte Frau Kurtz nur einmal: Als sie wegen eines Trauerfalls einige Tage nach Thüringen musste, hatte sie ihre Abwesenheit auf einem Aushang am Kiosk erklärt und entschuldigt. Einbrecher nahmen dies als Einladung. Immerhin stand dort deutlich, bis wann sie ihr Verbrechen erledigt haben mussten. „Daraus habe ich gelernt, aber ich bin nicht verzagt“, sagt sie. „Ich gehe hier nicht weg!“
Ein Stück den Hang hinunter, in der Kalischerstraße: Ahmed schmeckt die Nudelsoße ab. „Da muss mehr Salz hinzu“, sagt er. Erzieher Felix reicht ihm den Karton mit dem Salz und einen Esslöffel zum Abmessen, der Topf ist groß.
Jugendhilfe: Im Löwenhaus gibt es offene Ohren für den Nachwuchs
Ahmed und drei andere Kinder kochen heute für ein Dutzend hungrige Münder. Das ist im Löwenhaus nicht ungewöhnlich. Küchendienste und gemeinsames Essen gehören zum Betreuungsprogramm. Oft essen noch mehr Kinder als heute mit. Nach dem Abendessen werden Ahmed und die anderen Kinder nach Hause gehen. Ihre Nachmittage verbringen sie im Löwenhaus.
Hier gibt es Hausaufgabenhilfe, kreative Angebote und offene Ohren. „Die meisten Kinder kommen hierher, weil es zu Hause sehr eng ist“, sagt Löwenhaus-Leiterin Houda Mbarek. „Die Wohnungen sind klein, die Familien groß. In Ruhe die Hausaufgaben machen oder einfach mal für sich sein, ist da schwierig.“
Überbelegung von Wohnungen ist ein Problem im Viertel. Da sind zum einen die meist nicht mit den Verordnungen vereinbaren Unterkünfte der Wanderarbeiter. Da sind zum anderen Familien, die schneller wachsen, als man heutzutage eine größere Wohnung bekommt. Bei geflüchteten Familien kommt noch etwas anderes hinzu: Verwandte, die noch keine Wohnung gefunden haben, werden mit aufgenommen, bevor sie in den Unterkünften verbleiben müssen. Für die Eltern eine menschliche Selbstverständlichkeit, für die Kinder bedeutet das, dass sich auch noch Onkel oder Tante ständig in der Wohnung aufhalten.
„Die meisten Löwenhauskinder schaffen einen höheren Schulabschluss“
Das Löwenhaus bietet da einen Ausweichort für die Nachmittage nach der Schule oder für die Ferien. Und nicht nur das. Es bietet auch Möglichkeiten. „Alle Löwenhauskinder, die länger regelmäßig kommen, können schwimmen und Ski fahren“, sagt Houda Mbarek, „vor allem aber: Die meisten Löwenhauskinder schaffen einen höheren Schulabschluss.“
Eigentlich sieht das Löwenhaus-Konzept vor, dass hier nur Kinder bis 14 Jahren betreut werden. Viele wollen aber auch als Jugendliche bleiben. Das Team hat für diese Jugendlichen einen eigenen Zeitbereich am Abend geschaffen. „Ich suche gerade nach Räumlichkeiten, um einen Jugendbereich aufbauen zu können“, sagt Houda Mbarek. Die Jugendlichen danken es dem Haus übrigens: Manche sind bereits als Praktikanten oder Pädagogen zurückgekommen. „Die Identifikation mit dem Haus und dem Viertel ist groß“, weiß Mbarek.
Nazim Capa wohnt seit einem halben Jahrhundert im Phoenix-Viertel
Ein Urgestein des Viertels ist Nazim Capa. Er ist vor 53 Jahren als Kind in den Bezirk Harburg gekommen, hat allerdings „erst“ 50 Jahre Phoenix-Viertel voll: „Drei Jahre habe ich in Eißendorf gelebt, das hat mir aber nicht gefallen“, sagt er, „das Schöne hier ist nicht nur, dass die meisten Nachbarn nette Leute sind, sondern die zentrale Lage: weniger als ein Kilometer zum Bahnhof, in die Harburger City oder in den Stadtpark.“
Eigentlich ist Capa im Ruhestand. Als Versicherungskaufmann ist er das auch. Als Buchhalter, Bürodienstleister und Berater hilft er jetzt aber vielen kleinen Geschäftsleuten im Viertel, die ohne seine Unterstützung die deutsche Bürokratie kaum durchschauen würden. „Was im Viertel heute anders ist als früher, ist leider, dass die verschiedenen Gruppen mehr unter sich bleiben“, sagt er, „als ich jung war, haben wir hier alle zusammengehalten; egal ob Deutscher, Portugiese oder, wie ich, Türke.
Was heutzutage anders ist: die verschiedenen Gruppen bleiben mehr unter sich
Jetzt gibt es hier allein schon drei verschiedene Arten von Rumänen, die nicht einmal miteinander reden. Das ist schade. Schade ist auch die Entwicklung an der Wilstorfer Straße. Dort konnte man früher alle täglichen Bedarfe decken. Heute sind dort viele seltsame Geschäfte und Lokale, deren Besitzer häufig auch nicht aus dem Viertel kommen. Wenn dort jetzt näher hingesehen wird, ist das gut!“
Dass auch Menschen von außerhalb Probleme machen, sieht Sönke Hansen, Rentner, Hausmeister, Discjockey und ehemaliger Elektronikverkäufer ähnlich: „Ich beobachte nachmittags oft, dass Lieferwagen ins Viertel kommen, Sperrmüll an den Straßenecken abladen und wieder verschwinden“, sagt er. „Das sind professionelle Entrümpler, die hier wegwerfen, was sie nicht verkaufen können. Wir haben dann den schlechten Ruf davon!“
Grünes Paradies auf dem Hinterhof eines Hauses an der Lassallestraße
Dennoch liebt er das Viertel. Aus dem Hinterhof des Hauses an der Lassallestraße, in dem er lebt und das er betreut, hat er ein grünes Paradies gemacht. Daneben, im kleinen Hinterhaus, ist seine Werkstatt, Mieter können hier Wäsche aufhängen und Fahrräder unterstellen. Vor 120 Jahren war das kleine Gebäude die Waschküche und das Badehaus des Wohngebäudes. „Wir haben hier gute Nachbarschaft“, sagt Hansen. „Einmal, bei einem großen Stromausfall, haben wir sogar eine Treppenhausparty mit Kerzen, Taschenlampen und Gitarren gefeiert. Wir waren fast enttäuscht, als das Licht wieder anging. So etwas gibt es anderswo nicht!“