Harburg. Hilfseinrichtung im Phoenix-Viertel verlängert Öffnungszeiten. Arche-Leiterin: Kinder verwahrlosen und berichten von Gewalt zuhause.
Wenn Vasile allein sein will, bleibt er am besten im Bett. Die schmale Matratze ist einzige Ort zuhause, der nur ihm allein gehört. Vasiles Familie ist arm. Mit vier Geschwistern teilt sich der Neunjährige ein Zimmer. Im Lockdown sind alle zuhause. Die Situation ist angespannt. Also versucht Vasile rauszukommen, so oft es geht.
Sein Zufluchtsort liegt nur ein paar Häuserblocks weiter in einem Hinterhof. Dort, in den Räumen der evangelisch-methodistischen Christuskirche, ist die Arche untergebracht, eine christliche Hilfseinrichtung für Kinder aus sozial problematischen Verhältnissen.
Strenge Regeln im Lockdown
Vor dem Lockdown konnten die Kinder und Jugendlichen kommen und gehen, wann sie wollten. Jetzt gelten andere Regeln. Es gibt feste Gruppen mit jeweils zehn Kindern. Und feste Zeiten für jede Gruppe. Oft muss Leiterin Angela Krull Kinder wie Vasile wieder nach Hause schicken. Oft gibt es Wut und Tränen bei den Betroffenen. Weil die Arche für viele Kinder in dieser Zeit der Schulschließungen und sozialen Isolation der einzige Ort ist, an dem sie wahrgenommen werden, unbeschwert spielen können und Menschen finden, die sich um sie kümmern.
Arche arbeitet seit sechs Monaten im Phoenix-Viertel
Seit sechs Monaten gibt es die Arche in Harburg. Die offene Hilfs- und Unterstützungseinrichtung, die sich um Kinder und Jugendliche von vier bis 19 Jahren und deren Familien kümmert, Spiel- und Sportmöglichkeiten anbietet, bei Hausaufgaben hilft und die Kinder mit Essen versorgt, eröffnete im Juni nach Jenfeld und Billstedt ihren dritten Standort in Hamburg. Sitz ist das Gemeindehaus der evangelisch-methodistischen Christuskirche im Phoenixviertel. Das Viertel gilt als eines der problematischsten in ganz Hamburg.
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Im August startete der Betrieb. Und die Resonanz im Viertel war riesig. „Wir hatten bis zu 60 Kinder täglich hier“, sagt Leiterin Angela Krull. Doch seit dem Lockdown gelten strenge Regeln. Die Besucherzahl ist begrenzt. Spontanes Vorbeikommen ist derzeit verboten.
Die Kinder brauchen vermehrt Aufmerksamkeit
„Dabei brauchen viele Kinder im Viertel gerade jetzt, während der Krise, verstärkt Aufmerksamkeit“, sagt Leiterin Angela Krull. „Die Schulen sind geschlossen, Treffen mit Freunden verboten. Die Eltern sind mit der Situation überfordert.“ Die Kinder seien im Lockdown sich selbst überlassen und ihren Eltern ausgesetzt. Sie hätten keinerlei Möglichkeiten zu entfliehen. „Ihnen fehlen die Strukturen. Viele von ihnen sind bis zwei, drei Uhr nachts wach“, so Krull.
„Wir sehen zunehmend, dass die Kinder verwahrlosen. Sie sind hungrig und dreckig, nehmen nicht am Homeschooling teil und liegen den ganzen Tag im Bett.“ Zunehmend gebe es auch Gewalt in den Familien, so die Beobachtung der Arche-Leiterin. „Die Kinder berichten vermehrt von Gewalt zuhause und unterhalten sich beim Abendessen darüber, wie sie geschlagen werden, ob mit dem Gürtel oder den Hausschuhen.“
Mahlzeiten an vier Tagen
Um trotz der Corona-bedingten Einschränkungen so viele Kinder wie möglich zu erreichen, hat die Arche im Lockdown ihr Angebot jetzt weiter ausgebaut. Statt drei- gibt es nun viermal in der Woche ein Abendessen für die kleinen Besucher. Hinzu kommt ein täglicher Snack am Nachmittag. An allen vier Öffnungstagen bietet die Einrichtung zudem am Vormittag eine Lernzeit für diejenigen an, die bei den Schulaufgaben Unterstützung brauchen. Und auch die Öffnungszeiten am Nachmittag wurden verlängert, so dass zwei Gruppen nacheinander betreut werden können.
Nachfrage ist kaum zu bewältigen
„Die Nachfrage ist enorm“, sagt Angela Krull. „Viele Kinder haben zuhause weder den Raum, noch die technischen Möglichkeiten zum Lernen. Und die Eltern sind mit den Schulaufgaben überfordert.“ Die räumliche Enge und die Hilflosigkeit der Eltern führe oftmals zu Gewalt. „Wir beobachten mit Sorge eine zunehmende Gefährdung des Kindeswohls im Stadtteil“, sagt die Arche-Leiterin. „Es ist unsere Aufgabe, wahrzunehmen, was hinter den verschlossenen Türen passiert.“
Also warten die Mitarbeiter des Hilfswerks nicht nur darauf, dass die Kinder kommen, sondern gehen auch selbst zu den Familien hin. „Manchmal bringen wir etwas zum Abendessen vorbei, fragen wie es geht“, sagt Angela Krull, die auf diesem Weg auch bei den Eltern um Vertrauen für die Arbeit der Arche werben will. „Denn nur, wenn wir die Eltern mit im Boot haben, können wir wirklich etwas ändern“, sagt die Bildungs- und Erziehungswissenschaftlerin, die hofft, in diesem Jahr endlich auch Familienfeste und gemeinsame Ausflüge anbieten zu können.
Ehrenamtliche Bildungspaten sollen helfen
Auch beim Thema Schule und Bildung will sich die Arche im Stadtteil künftig noch mehr einbringen. Schon jetzt gibt es eine enge Kooperation der Einrichtung mit der nahe gelegenen Schule Maretstraße. 820 Schüler aus überwiegend sozial benachteiligten Elternhäusern gehen dorthin. Viele von ihnen können laut Schulleiterin Dana Schöne ohne Hilfe von außen nicht am öffentlichen Leben teilhaben. Hier komme der Arche eine wesentliche Rolle zu, Bildungs- und Chancengleichheit herzustellen. „Viele Schüler kommen nach der Schule direkt zu uns rüber, können hier Kurse besuchen oder einfach nur zusammen spielen“, sagt Angela Krull. Wichtiger aber noch sei, dass sie hier verlässliche Bezugspersonen finden, die ihnen zuhause fehlen. „Viele Kinder kommen aus instabilen familiären Verhältnissen. Ihnen fehlen ein sicherer Rahmen und feste Beziehungen.“
Genau an dieser Stelle soll das Angebot der Arche erweitert werden. Geplant ist, jedem Kind eine individuelle Lernförderung anzubieten. Die Idee: Ehrenamtliche übernehmen die Betreuung für je ein Kind und treffen sich einmal in der Woche zum gemeinsamen Lernen. „Es geht bei dieser 1:1-Betreuung nicht so sehr darum, fachliche Kompetenzen zu vermitteln, sondern vielmehr um Beziehung“, sagt Angela Krull. „Darum, dass sich ein Erwachsener einem Kind unmittelbar zuwendet.“
Die Kinder sollen ihr Potenzial entfalten können
Für das Projekt, das bereits im Februar starten soll, werden dringend noch weitere Ehrenamtliche gesucht. Denn die Bereitschaft der Kinder, die persönliche Lernzeit zu nutzen, ist riesig. „Wir haben enorm viele Anmeldungen“, sagt die Arche-Leiterin. Unterstützung bekommt die 28-Jährige von ihrem Chef Tobias Lucht, der die Arche in Hamburg seit ihrer Gründung 2006 leitet. Sein Credo lautet: „In jedem Kind steckt viel Potenzial. Es lohnt sich, diese Schätze zu heben.“
45 Jugendliche hat Lucht in den vergangenen 15 Jahren durch den Schulabschluss begleitet. „Sie kamen als Fünfjährige zu uns und haben ihren Weg gemacht“, sagt er. „Das zeigt, dass es möglich ist, den Kreislauf aus Perspektivlosigkeit und Armut zu durchbrechen.“