Harburg. Fast zwei Drittel aller Zustellerinnen und Zusteller fordern in einem Brandbrief eine Verbesserung der „gesundheitsgefährdenden Zustände“.

Viele Zustellerinnen und Zusteller der Deutschen Post AG in Harburg sehen sich einer enormen Arbeitsbelastung ausgesetzt. Sie werfen ihrem Arbeitgeber vor, durch einen neuen Zuschnitt der Zustellbezirke die Arbeitsbelastung auf ein gesundheitsgefährdendes Niveau angehoben zu haben. „Das Jahr 2021 ist von ständigen Übertragungen, Abbrüchen und ständigen Improvisationen geprägt“, heißt es in einer Überlastungsanzeige, die sich wie ein Brandbrief liest, und dem Hamburger Abendblatt vorliegt.

Ein Zustellung im Soll-Zustand sei die Ausnahme

Nach Informationen des Hamburger Abendblattes haben fast zwei Drittel aller Zustellerinnen und Zusteller in Harburg diese Erklärung unterzeichnet und an die Personalabteilung weitergeleitet. „Die Krankmeldungen im Umfeld der Kolleginnen und Kollegen steigen an, oder sind auf einem hohen Niveau stabil. Die personelle Verstärkung durch neue Kräfte findet allenfalls im Einzelfall statt“, heißt es in dem Schreiben weiter. „Jeden Tag planen wir die Zustellung neu, es gibt keine Ablaufroutine mehr, eine Zustellung im Soll-Zustand ist die Ausnahme geworden. Ich fühle mich gestresst, hoch belastet und nicht mehr gesund.“

Häufig müssten Touren abgebrochen werden, berichten Briefträgerinnen und Briefträger. Das liege vor allem am hohen Krankenstand während der vergangenen Monate, betonen die Postmitarbeiter. Ende September wurden die zeitlichen und örtlichen Vorgaben der Touren neu bemessen, es gibt keine „Stamm“- Postboten mehr. Neue Verteilungsgebiete bedeuteten eben auch, dass die Gebiete unbekannt sind und die Zustellung noch länger dauert, so ein Zusteller im Gespräch. Die ohnehin dünne Personaldecke werde dadurch umso deutlicher. „Harburg ist ein Epizentrum, was den Krankenstand angeht“, sagt der zuständige Gewerkschaftssekretär Lars-Uwe Rieck von Verdi.

Durchschnittlich drei Bezirke bekämen gar keine Post

In der Harburger Poststraße sind nach übereinstimmenden Berichten insgesamt rund 115 Mitarbeiter beschäftigt. 43 sind in der Briefzustellung tätig, von denen sich, Stand Donnerstag, 17 längerfristig krankgemeldet hatten und drei kurzfristig ausgefallen seien. Durchschnittlich drei Bezirke würden an manchen Tagen gar keine Post oder nur eine Notzustellung von Paketen, Urkunden und Einschreiben erhalten. Andere nicht besetzte Verteilungsgebiete würden auf die Schultern der anwesenden Kollegen aufgeteilt.

Einen Zustand, den Harburgs Betriebsratsvorsitzender Jörn Borsum als systemimmanent bezeichnet. „Die Kolleginnen und Kollegen geben täglich ihr Bestes. Dafür gebührt den Beschäftigten Dank, aber auch der Hinweis, auf die eigene Gesundheit zu achten. Die Verantwortung für die Situation, so wie sie ist, liegt nicht bei den Produktionskräften im Betrieb, sondern bei der Deutschen Post.

Der Betriebsrat fordert beim Arbeitgeber wirksame Maßnahmen zum Erreichen eines Normalbetriebs ein,“ so Borsum auf Nachfrage. „Ich kann die Überlastungsanzeige nachvollziehen. Neueinstellungen werden vorgenommen, haben aber kaum eine Chance, im Betrieb mit seinen derzeitigen Schwierigkeiten anzuwachsen und fluktuieren wieder heraus,“ verteidigt der Betriebsratsvorsitzende seine Kolleginnen und Kollegen.

Neue Arbeitskräfte geben häufig schnell wieder auf

So sehen es auch andere Zustellkräfte und erläutern, „wenn mal ein Schnupperer – wie bei der Post Neueinsteiger genannt werden – kommt, sieht er gleich am ersten Tag die hohe Arbeitsbelastung. Häufig melden die sich am nächsten Tag schon gar nicht mehr und sind telefonisch nicht erreichbar.“

„Die missliche Situation erörtern wir täglich mit unserem Standortleiter oder mit unseren Teamleitern. Eine Veränderung ist für mich nicht wahrnehmbar. Ich bitte Sie, die Situation in meinem Arbeitsbereich durch entsprechende Maßnahmen zu verbessern“, heißt es in der Überlastungsanzeige abschließend. Die Deutsche Post verspricht, Überstunden auszugleichen.

Das sagt die Pressestelle Hamburg der Deutsche Post DHL Group:

„Unsere Zustellkräfte sind durch eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit in der Zustellung geschützt. Darin enthalten sind unter anderem maximal 15 Minuten zusätzliche Arbeitszeit pro Tag. Uns liegen acht Überlastungsanzeigen vor. Einige dieser Mitarbeiter hatten Ende September Minusstunden auf ihrem Arbeitszeitkonto. Durch erhöhten Krankenstand im Oktober mussten leider zusätzliche Stunden gearbeitet werden. Dies entsprach im Oktober Mehrleistungen von etwa einer bis dreieinhalb Stunden pro Zustellkraft. Diese Überstunden können selbstverständlich ausgeglichen werden.

Durch weitere Einstellungen und Entlastungskräfte aus anderen Bezirken wird sich die Situation zügig weiter entzerren. In der nächsten Woche planen die Führungskräfte zudem ein klärendes Gespräch. Selbstverständlich erkennen wir den besonderen Einsatz der Kolleginnen und Kollegen an.

Die Deutsche Post DHL hat das unter anderem mit Corona-Boni honoriert. Im Vorjahr wurde an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weltweit 300 Euro steuerfreier Bonus gezahlt, in diesem Jahr folgt ein weiterer in gleicher Höhe; auch die Tariflöhne steigen mit insgesamt fünf Prozent in zwei Schritten überdurchschnittlich.