Neugraben-Fischbek. In Erinnerung an die Toten: Fischbeker Kirchengemeinde ruft ungewöhnliches Projekt ins Leben. Corona war ein Auslöser

„Wir Nichten und Neffen erinnern uns gern an die Besuche bei Tante Lisa. Sie nahm sich immer mehr Zeit für uns. Als wir Kinder waren hat sie mit uns stundenlang Mensch-ärgere-dich-nicht und andere Würfelspiele gespielt. Später als wir älter wurden, hat sie sich mit uns unterhalten, wie nur sie es konnte (…) Wir hätten sie gern noch viel länger in unserem Leben gehabt (...) Am 28. April 2021 ist Luisa Seidel ganz unerwartet und plötzlich gestorben. Wir sind sehr, sehr traurig. Sie war ein wunderbarer Mensch.“

Das schreibt Andreas Brandt in Gedenken an einen ihm wichtigen Menschen, der nicht mehr lebt. Nachzulesen auf frieden-suederelbe.de, einer Art digitalem Friedhof für die Süderelbe-Region.

Ein Projekt der Cornelius-Kirchengemeinde in Fischbek

Trauern im Internet, Online-Gräber: Klingt abwegig? Ja, im ersten Moment schon. Doch wer mit Pastor Gerhard Janke von der evangelisch-lutherischen Cornelius-Kirchengemeinde in Fischbek als Initiator dieses ungewöhnlichen Projekts spricht, kommt ins Grübeln. Er selbst gibt zu, dass er vor zwei Jahren, „als alles noch gut war“ und es kein Corona gab, so etwas selbst für abwegig gehalten hätte.

„Damals hätte ich mir aber auch nicht träumen lassen, dass wir einmal einen Gottesdienst digital abhalten oder Trauerarbeit über Whatsapp ausprobieren“, sagt er. Was in den vergangenen Monaten geschah, habe bei ihm und in der Kirchengemeinde ein Umdenken ausgelöst. „Die Digitalisierung eröffnet eine weitere Ebene, wir erreichen ganz andere Menschen“, berichtet er.

Erfahrungen mit dem digitales Gedächtnis sind positiv

Und deshalb öffneten sich Janke und die Kirchengemeinde auch für eine andere Idee: Warum kein digitales Gedächtnis für die Verstorbenen der Region schaffen? Im Sommer fingen sie vorsichtig damit an. Jetzt geht die Kirchengemeinde damit an die Öffentlichkeit. Denn die Erfahrungen sind durchaus positiv. „Der Trauerweg ist ganz schön lang. Nach einer Beerdigung fällt man oft in ein Loch“, weiß der Pastor aus seiner Erfahrung als Seelsorger. Das digitale Projekt habe ihm und Angehörigen, die dafür offen sind, in den vergangenen Wochen geholfen. Zum Beispiel in Kontakt zu kommen.

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„Es traut sich nicht jeder, einen Pastor anzusprechen“, so Janke. Nach den Beerdigungen habe er daher immer etwas gewartet und Angehörigen dann einen Brief geschrieben mit Hinweis auf das Projekt und den nötigen Zugangsdaten. Denn die Einträge an sich sind wie auf einem Friedhof öffentlich einsehbar, aber nicht jeder kann einfach etwas eintragen. Aufgrund des Projekts rief dann der ein- oder andere an, weil er Fragen hatte. So kam man auch ins Gespräch und gerade das sei in der Trauer und Seelsorge wichtig, erklärt Janke. „Es kann ein Türöffner werden, eine weitere Möglichkeit, in Kontakt zu kommen.“

Auszug aus dem digitalen Totenverzeichnis aus der Region Süderelbe, einem Fischbeker Kirchenprojekt
Auszug aus dem digitalen Totenverzeichnis aus der Region Süderelbe, einem Fischbeker Kirchenprojekt © Unbekannt | Screenshot

13 Einträge zählt der digitale Friedhof derzeit, bei dem es sich um eine Liste handelt. Die Namen sind alphabetisch sortiert. Dabei steht es den Angehörigen offen, ob sie wie auf einem Grabstein Name sowie die Lebensspanne vermerken oder noch weitere Informationen hinzufügen, wie den Beruf, ein Foto oder einen kleinen Text über den geliebten Menschen. Zehnmal ist das der Fall. Es sind berührende Texte, kleine Einblicke in ein Leben einer Hausfrau und Tante, eines Kraftfahrers und Ehemannes. Auf Fotos lächeln einem die Verstorben wie zu einem Abschiedsgruß zu. „Mir war die Schlichtheit wichtig“, erklärt Janke.

Flackernden Online-Kerzen wollte der Pastor aber nicht

Er hatte sich im Vorwege andere digitale Projekte angesehen, virtuelle Friedhöfe. Was ihm daran gar nicht gefiel: „Ich fand sie nicht ansprechend. Besonders weil der Social-Media-Gedanke hier weitergetrieben wird.“ So können Besucher anstatt Likes oder Herzen zu verteilen, hier dann Kerzen entzünden. Bei manchem flackerten dann 40 Kerzen, beim anderen keine. Dass Unterschiede in der Popularität bis über den Tod hinaus sichtbar sind? „Das wollte ich auf keinen Fall“, sagt Janke deutlich. Zudem war ihm wichtig, dass es wie bei einem örtlichen Friedhof das Projekt auf die Region beschränkt bleibt.

Wie der Pastor aus Fischbek überhaupt auf die Idee kam? Auslöser waren mehrere Faktoren. Janke war aufgefallen, dass die Friedhofsverwaltung Ohlsdorf eine Liste der hier begrabenen prominenten Verstorbenen im Internet veröffentlicht. „Das ist bestimmt sinnvoll für den Friedhof in Ohlsdorf und doch fragte ich mich: Warum muss man dafür eigentlich prominent sein?“, so Janke. Der Gedanke ließ ihn nicht los. Es beschäftigte ihn und war der Funke, wie er sagt – und dann kam Corona.

Der Pastor litt mit den Angehörigen, die aufgrund der Pandemie und den Einschränkungen ihren Angehörigen im Krankenhaus nicht beistehen durften. Aus der Seelsorge weiß er, dass so mancher einsam auf den Stationen starb, während Angehörige ihn nicht besuchen durften, keinen Abschied nehmen konnten. Auch sie waren allein. In den Trauergottesdiensten durften zeitweise nur bis zu zehn Personen teilnehmen. Nachbarn, die Skatfreunde: Viele mussten draußen bleiben, die Angehörigen dann auch stärken. Zudem mussten die Anwesenden Maske tragen und in Abstand sitzen. „Gerade in der Trauer braucht es aber Nähe“, betont Janke. Und die fehlte, fast eineinhalb Jahre lang. Umso mehr wollte er für sie einen Erinnerungsort gestalten. Bestattungskultur sei etwas, das den Menschen von Anbeginn der Zeit geprägt habe.

Sie entwickelte ihn weiter und letztlich veränderte sie sich auch selbst, so Janke. Seebestattungen, anonyme Gräber, Gemeinschaftsgrab mit Freunden: Der Pastor nimmt eine Veränderung wahr, die sich auch auf dem Friedhof seiner Gemeinde widerspiegelt und der er sich nicht verschließen möchte.