Bardowick. Die Idee kam Firmengründer Ende der 60er Jahre. Es ist die Zeit der Studentenrevolte, es gibt immer wieder Protestmärsche und Aggressionen

Matthias Tretter umklammert mit beiden Händen den Hammer und schlägt mit voller Kraft auf die Windschutzscheibe ein. Immer und immer wieder. Aber das Glas bricht nicht. Es bildet sich kein einziger Riss. Was hier in einer großen Halle bei Bardowick abläuft, ist keine aggressive Randale, sondern innovative Forschung zum Wohle der Menschheit. Tretter ist Leiter der Abteilung für Produkt- und Verfahrensentwicklung beim Unternehmen KRD Sicherheitstechnik.

Der Kunststoff fängt Schläge und sogar Schüsse ab

Irena Meyer versiegelt in Handarbeit die Kanten einer Windschutzscheibe.
Irena Meyer versiegelt in Handarbeit die Kanten einer Windschutzscheibe. © Martina Berliner | martina berliner

Das Glas hält Stand, weil es nicht aus Mineralien besteht, sondern aus Kunststoff. Genauer: Aus doppelschichtigem Polycarbonat. Die Hammerattacke demonstriert eindrucksvoll, dass solche Verbundscheiben kaum zerstörbar sind. Der extrem schlagzähe Werkstoff schützt Menschen vor Gewalt und Unfällen. Er fängt Schläge und sogar Schüsse ab. Deshalb wird KASIGLAS ®, so der Markenname, in Einsatzfahrzeuge und Helmvisiere von Polizei und Feuerwehr verbaut. In Bau-, Landwirtschafts- und Forstmaschinen verhindert Sicherheitsglas aus Bardowick Gefahr durch Steinschlag und gerissene Sägeketten.

Am Anfang stand der Sicherheitsaspekt

Aufgrund seiner Leichtigkeit und Transparenz kommt das Kunststoffprodukt aber auch bei Renn- und Sportwagen, Elektrofahrzeugen, Helikoptern und Yachten zum Einsatz. Er findet Anwendung in OP-Leuchten, Reinräumen industrieller Fertigungszonen und Maschinenabdeckungen. Das splitterfreie Material ist auch prädestiniert für transparente Lärmschutzwände, Begrenzung von Kinderspielplätzen oder Designelement moderner Architektur. Am Anfang stand jedoch der Sicherheitsaspekt.

Immer mehr Polizeiwagen mit eingeschlagenen Scheiben

Die Idee kam Firmengründer Gerd Brammer Ende der 60er Jahre. Es ist die Zeit der Studentenrevolte, es gibt immer wieder Protestmärsche und die Stimmung bei Demonstrationen wird zunehmend aggressiver. Dem Kfz-Mechaniker wird klar, dass „Schutzmänner“ künftig selbst Schutz brauchen werden. In seiner Hamburger Autowerkstatt ­– KRD steht ursprünglich für Kraftfahrzeug-Reparatur-Dienst – landen immer mehr Polizeiwagen mit eingeschlagenen Scheiben. Vielleicht wäre es klug, anstatt spröden Glases Kunststoff einzusetzen, überlegt Brammer und verbaut Polycarbonat.

Er muss bald feststellen, dass die Oberfläche zu weich und kinderleicht zu zerkratzen ist. Selbst die pendelnden Wischerblätter machen PC-Scheiben im Nu matt und undurchsichtig. Brammer gibt trotzdem nicht auf und tüftelt weiter. Die Lösung des Problems findet KRD Mitte der 1980er Jahre in einer hauchdünnen Oberflächenbeschichtung. Inzwischen haben KRD-Chemiker eine Vielzahl von Lacken mit unterschiedlichen Eigenschaften entwickelt, die im eigenen Hause produziert und auf die angelieferten Polycarbonatscheiben aufgebracht werden. Auch Zuschnitt und Formung erfolgen in Eigenregie.

Geschick und Innovationen sind weiterhin unerlässlich

Aus Brammers kleiner Garagen-Werkstatt ist ein Unternehmen geworden, das in zwei Werken in Geesthacht und Bardowick mehr als 200 Mitarbeiter beschäftigt. Das Bardowicker Werk ist neuer, größer und hat einen höheren Automatisierungsgrad. Geschickte Hände und innovativer Geist sind aber weiterhin unerlässlich.

Daniel Kubin sorgt dafür, dass die frisch beschichteten Scheiben fleckenlos bleiben – durch Transport mit Saugnäpfen.
Daniel Kubin sorgt dafür, dass die frisch beschichteten Scheiben fleckenlos bleiben – durch Transport mit Saugnäpfen. © Martina Berliner | martina berliner

Seit nunmehr 15 Jahren leitet Gerd Brammers Tochter Beate Korinna den Familienbetrieb. Unter ihrer Führung geht die Entwicklung rasant weiter. Mit NEEROGLAS ® – der Name ehrt den Chemiker und Erfinder Rolf Neeb – bringt KRD gerade einen völlig neuen Werkstoff auf den Markt. Der Kern besteht aus Polymeren, die Oberflächen aus hauchdünnem Mineralglas. So werden die besten Eigenschaften beider Materialien vereint: Die hohe Steifigkeit, Langlebigkeit und Kratzbeständigkeit des anorganischen Glases und die Bruchfestigkeit und Leichtigkeit des Kunststoffs. Beide Bestandteile werden ohne Klebstoffe oder Verbundfolien auf chemischem Wege direkt miteinander kombiniert.

Zwei Monate in einem 65 Grad warmen Wasserbad

„Der enge Verbund ist gleichzeitig der Grund dafür, dass das neue Material auch in Bewitterungstests besser abschneidet. Selbst nach zwei Monaten in einem 65 Grad warmen Wasserbad zeigt es keine sichtbaren Beeinträchtigungen“, erklärt Beate Korinna Brammer. Hunderttausende Euro hat KRD in die Entwicklung, in Labormaterialien, Tests und Prüfungen von Neeroglas gesteckt. Beate Korinna Brammer hat keinen Zweifel daran, dass sich die Investition auszahlen wird: „Bereits heute ist absehbar, dass sich Architekten damit Gestaltungsoptionen erschließen können, die mit Glas so nicht zugänglich sind. Es erlaubt die Errichtung offenerer, hellerer Fassaden oder Dächer, da die Tragkonstruktionen filigraner ausfallen können.“ Optische Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet auch die Färbung des Polymerkerns mit organischen Farbstoffen. Und die Beständigkeit gegen Umwelteinflüsse ermöglicht den Einsatz auf hoher See, etwa auf Kreuzfahrtschiffen.

Für die Zukunft sieht Beate Korinna Brammer weitere Potenziale: So sei es zum Beispiel möglich, empfindliche Gewebe oder Elektronikbausteine wie LEDs unkompliziert in den Polymerkern einzubetten. Brammer: „Warum nicht zum Beispiel Solarmodule sicher und vor Witterungseinflüssen geschützt einschließen? Wir sind sehr gespannt, was unsere Kunden alles aus unserem neuen Glas-Werkstoff machen werden.“