Harburg. Kolumne: Der ehemalige Michel-Hauptpastor Helge Adolphsen über den Totensonntag, das Erinnern und Versöhnung
Der von der christlichen Tradition geprägte Toten- und Ewigkeitssonntag konfrontiert uns mit den dunklen Seiten des Lebens. Die Erinnerung an geliebte Menschen schmerzt, sie fehlen uns. Und ihr Tod ist ein `Zu spät´- für Versöhnung und für alles, was man hätte tun können und vielleicht auch hätte tun müssen.
Aber es tut auch weh, dass das Leid eines zerbrochenen Herzens andere nicht interessiert. Es gibt unter uns eine Trauer- und Leidfeindlichkeit. Und eine Fülle von Vermeidungsstrategien. Der Berliner Psychiater und Psychotherapeut Jan Kalbitzer hat eine eigene Praxis und forscht an der Berliner Charité über den Umgang mit dem gesellschaftlichen Wandel. Sein neues Buch hat einen provozierenden Titel: „Das Geschenk der Sterblichkeit“. Untertitel: „Wie die Angst vor dem Tod zum Sinn des Lebens führen kann“. In einem Interview bemerkt er zu den heutigen Vermeidungsstrategien und zum Verdrängen des Todes etwas Grundsätzliches: „Wir laufen zu oft vor Problemen weg.“ Dabei ist er weit entfernt davon, die Spaß-, Event- und Tempogesellschaft pauschal zu kritisieren. Nein, er sagt diesen Satz sehr persönlich. Er hat selbst eine tiefe Lebenskrise durchlitten und überstanden. Kluge Leute haben immer schon gesagt, dass eine Krise eine tiefe Erschütterung bewirkt, aber zugleich auch eine Chance ist. In diesem Sinne versteht er die Sterblichkeit als ein Geschenk. Wenn sie keine Katastrophe wäre, könnte sie uns nicht beschenken.
Oberflächlich betrachtet ist der Tod nur das Ende von allem Glück. Deshalb leben viele drauflos, als wären sie unsterblich, nach dem schon in der Bibel kritisierten Satz: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.“ Aber selbst wenn die Leute aus dem Silicon Valley es schaffen, Menschen unsterblich zu machen, kommt irgendwann eine Krise. Und die fragt uns dann: „War’s das? Was für einen Sinn hat mein Leben noch?“
Kalbitzer stellt fest, dass gerade wir in der westlichen Welt den Tod allzu sehr verdrängen. Ich selbst versuche, den Satz der amerikanischen Nonne Coretta für mich zu beherzigen: „Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens.“ Das ist kein Satz für Melancholiker, Depressive und Jenseitsflüchtlinge. Er ist positiv zu verstehen. Dann macht er Mut und gibt Kraft, heute bewusst und gern zu leben, sich am Leben zu freuen und dankbar zu sein.
Der Autor beschreibt tiefe Lebenskrisen sehr realistisch, ohne sie zu verklären. Sie sind belastend und fürchterlich anstrengend. Aber es ist wichtig, ihnen nicht vorschnell zu entfliehen, sondern standzuhalten. Im ständigen Streben nach Glück und mehr Leben fällt es Menschen schwer, das Dunkle und Erschreckende auszuhalten. Der Mediziner empfiehlt uns, mit anderen darüber zu sprechen. Es hilft nicht, sich einzuigeln und abzuschotten. Und von Erfahrungsberichten anderer und Ratgeberbüchern hält er nichts. Jeder gute Arzt und Seelsorger weiß, dass Ratschläge immer auch Schläge sein können, aber nicht aufrichten. Tipps zu geben bewirkt nach Kalbitzer, dass Menschen nur depressiver werden, wenn die Tipps nicht helfen. Das Hauptziel seiner Arbeit als Arzt beschreibt er so: Die Angst vor dem Sterben trifft jeden irgendwann. Es ist heilsam, sich der Angst zu stellen und das eigene Leben kritisch zu befragen: Was ist mir wichtig? Ich kann das aus meiner Erfahrung bestätigen. Ich habe Menschen erlebt, die nach überstandener Krise sagten: „Mein Leben hat sich verändert. Ich bin reifer und reicher geworden.“ Ich weiß aber auch, dass längst nicht alle das so erleben und sich so dankbar äußern können.
In dem Interview sagt er auch Bedenkenswertes zu unserem Umgang mit der Zeit: Vergangenheit und Zukunft nehmen viel mehr Platz ein als das „Jetzt“ und das „Heute“. Das wird als zu klein und zu eng erlebt und gestaltet. Wenn aber Vergangenheit und Zukunft zu groß und zu übermächtig werden, wird das für uns zu anstrengend und überfordert uns. Sich in der Vergangenheit zu vergraben, tut nicht gut. Fiktive Probleme der Zukunft lösen zu wollen, auch nicht. Das kann im Übrigen keiner. Da ist er wieder, mein hilfreicher Satz „Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens.“ Ihn zu füllen, Leben und Sterblichkeit als Gabe und zugleich als Aufgabe zu verstehen, kann dem Heute Sinn geben. Was dieser Sinn jeweils für mich ist, das muss jeder selbst finden. Auch durch Krisen, Trauer und Schmerzen hindurch.