Harburg. Große Sonderausstellung zeigt auf Luftbildern die industrielle Blüte, Kriegszerstörungen und den Wiederaufbau Harburgs.
Rauchende Schornsteine der Industriestadt Harburg vor 100 Jahren. Städtische Vorzeigegebäude Ende der 1920er Jahre. Auf die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs folgen der Wiederaufbau und der Umbau Harburgs zur autogerechten Stadt: All das lässt sich in der neuen Sonderausstellung des Stadtmuseums Harburgs aus der Luft betrachten. Entsprechend lautet der Ausstellungstitel „Harburg von oben“.
„Bei Recherchen in unseren Fotosammlungen bin ich in den vergangenen Jahren immer wieder auf historische Luftbilder gestoßen“, sagt Harburgs Stadthistoriker Jens Brauer vom Stadtmuseum Harburg. „So entstand die Idee, eine Ausstellung daraus zu machen.“ Als das Konzept konkret wurde, fand Brauer im Staatsarchiv Hamburg weitere Motive und lernte den Hamburger Fotografen Jürgen Joost kennen. Er hatte die Sammlung von Günther Krüger (von 1953 bis 1966 der erste festangestellte Fotograf beim Hamburger Abendblatt) erworben. Krüger hatte von 1954 bis 1969 den Wiederaufbau der Stadt mit Luftbildern dokumentiert.
Das älteste Bild stammt aus dem Jahr 1877
Die Ausstellung umfasst einen Zeitraum von 100 Jahren. Das älteste Bild stammt aus dem Jahr 1877 – es ist kein Foto, sondern eine Grafik, die „Harburger Vogelschau“. „Solche 3-D-Schrägaufnahmen wurden auch für andere Städte angefertigt, zum Beispiel von München und Stade“, sagt Brauer. „Die Grafik ist sehr detailliert. Wie sie entstand, wissen wir nicht.“ Die Stadt boomte damals, das zeigt auch die „Vogelschau“: Die Zeichnung wird eingerahmt von bedeutenden Harburger Bauten, inklusive der gerade erst erbauten Eisenbahnbrücke über die Elbe.
Das erste fotografierte Luftbild von Harburg entstand um 1920 aus einem Fesselballon. Nach dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) wurden allmählich Flugzeuge populär. Durch sie erlebte die Luftbildfotografie ihre erste Blütezeit. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich Harburg zur Industriestadt entwickelt. Auf den Luftbildern der 1920er/30er Jahre sind viele rauchende Schornsteine zu sehen, aber auch einzelne Betriebe, etwa die Pflanzenölverarbeiter Hobum und Harburger Mühlenbetrieb AG.
Harburg wurde erst im Jahr 1944 großflächig bombardiert
Häufig kamen Aufträge für Luftaufnahmen aus der Industrie. Und von Kommunen, die sich präsentieren wollten. So wurden auch in Harburg imposante Gebäude ins Visier genommen: das Rathaus mit Vorplatz und Postgebäude, der gerade angelegte Stadtpark am Außenmühlenteich oder die 1930 eingeweihte Friedrich-Ebert-Halle mit ihren umgebenden Schulbauten im Stil der Neuen Sachlichkeit.
Es folgten die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Während nördlich der Elbe die verheerendsten Angriffe im Juli 1943 erfolgten, wurde Harburg erst im Jahr 1944 großflächig bombardiert. Am 2. Januar wurde die Industriestadt mit ihren Hafenbecken durch den ersten von zehn Luftangriffen heimgesucht. Beim schwersten Schlag am 25. Oktober ging ein Bombenteppich auf Harburg nieder, der ganze Straßenzüge dem Boden gleichmachte. 623 Menschen wurden getötet.
Die britische Royal Air Force dokumentierte die Weltkriegszerstörungen
Wie katastrophal ihre Zerstörungen waren, dokumentierte die britische Royal Air Force nach der Kapitulation Hamburgs (3. Mai 1945) ausführlich mit einer Drei-Kamera-Technik, deren Aufnahmen sich heute zu dreidimensionalen Bildern zusammenrechnen lassen. Auch sie sind in der Ausstellung zu sehen. Die Besucher erhalten 3D-Brillen und können mit ihnen die zahllosen Häuserskelette plastisch sehen, dazu Schornsteine, die in den Himmel ragen. Die durch eine einzige Bombe getroffene Friedrich-Ebert-Halle sieht aus wie ein hohler Zahn, dem die Krone fehlt. Wohnquartiere, die erst zehn Jahre zuvor gebaut worden waren, existieren nicht mehr.
Wie lang der Weg von der zertrümmerten zu einer wieder funktionierenden Stadt war, zeigen die Luftbilder der 1950er und 1960er Jahre. Eine ungeheure Wohnungsnot war zu bewältigen. Zunächst entstanden „Nissenhütten“, Wellblechhütten in Fertigteilbauweise mit halbrundem Dach. Sie wurden ersetzt durch Häuserviertel aus Beton, auch Hochhäuser. Die Neubaugebiete zeichnen sich als helle Flecken in den Luftbildern ab, denn die Gebäude sind noch nicht von Bäumen umsäumt. Oftmals seien beschädigte Häuser erst einmal nur mit einem einfachen Dach versehen worden, so Brauer. Solche flachen Gebäude in Häuserlücken sind vereinzelt noch heute zu finden.
Auf einem Luftbild aus 1969 ist die Campingausstellung auf dem Karstadt-Dach zu sehen
Von der Nachkriegszeit erzählen zwölf Luftaufnahmen von Günther Krüger, entliehen von Jürgen Joost. Sie zeigen den Wiederaufbau und den damit verbundenen Wandel zu einer städtischen Infrastruktur, die mehr und mehr auf Autos ausgerichtet ist. Diese parkten auch auf den Dächern des Karstadt-Gebäudes (erbaut 1962 als Ersatz des 1944 zerstörten Warenhauses). Auf einem Luftbild aus 1969 ist die jährliche Campingausstellung auf dem Dach des höheren Gebäudeteils zu sehen. Die Urlaubsform kam in den 1950er-Jahre auf und stillte die Reiselust vieler Deutschen.
Spätere Aufnahmen dokumentieren den gerade fertig gestellten Harburger Ring. „Sein Bau von 1973 bis 1982 war einschneidend für das Stadtbild“, sagt Brauer. „Erhalten gebliebene alte Bausubstanz musste nun der Modernisierung der Stadt weichen. Dazu passt, dass 1972 der Ostflügel des Harburger Schlosses abgerissen wurde.“ Auf Bildern den 60er/70er Jahren sind viele Autos zu sehen – die Stadt sei an den wachsenden Verkehr angepasst worden, sagt der Historiker.
Heute ist ein Blick von oben auf Harburg und andere Städte zum Alltag geworden
Fotos aus den frühen 80er-Jahren sind die jüngsten Zeitzeugen der Ausstellung. Aktuellere Aufnahmen haben an Reiz verloren – heute ist ein Blick von oben auf Harburg und andere Städte zum Alltag geworden, etwa bei der GPS-Navigation oder wenn man sich per Satelliten-View schon einmal seinen Urlaubsort aus der Luft ansieht. Die digitale Vogelperspektive kann Häuser heranzoomen oder das Sichtfeld vergrößern und beliebig die Blickrichtung wechseln. Aber in die Vergangenheit schauen, das kann sie nicht.