Wilhelmsburg. Das Spreehafenviertel soll 2026 gebaut werden. Knapp die Hälfte der Fläche ist wertvoller Naturraum – und soll den Baumaßnahmen weichen.
Wer heute aus der Vogelperspektive auf den Ernst-August-Kanal im nördlichen Wilhelmsburg schaut, sieht dort zwei auffällige grüne Dreiecke: Nach Deichbrüchen im Februar 1962 hat sich am nördlichen Kanalufer, Richtung Harburger Chaussee und Spreehafen, auf einer gut acht Hektar großen Fläche wilder Wald entwickelt. Der weitgehend unberührte Pionierwald soll in den kommenden Jahren dem Projekt Spreehafenviertel der IBA Hamburg GmbH weichen. Das kritisiert die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW) zum Tag des Waldes am 21. März.
„Der Wald hat sich weitgehend ungestört entwickelt, da war noch nie eine Motorsäge am Werk“, sagt Jan Muntendorf von der SDW. „Wahrscheinlich wäre es wissenschaftlich interessant, genauer zu schauen, was sich dort angesiedelt hat.“ Dabei denkt der Forstingenieur weniger an Rehe, sondern an eher unscheinbare Waldbewohner – von den Lebewesen im Boden über die Insekten bis zur Vogelwelt in dem städtischen Lebensraum zwischen alten Wohnquartieren und Hafen.
Das Spreehafenviertel ist eines von drei geplanten Arealen auf der Elbinsel Wilhelmsburg
Dass bei der Bebauung des Areals möglichst viele alte Bäume stehen gelassen werden sollen, kann Muntendorf nicht überzeugen: „Baumgruppen oder -reihen machen noch keinen Wald aus, das ist Begleitgrün zwischen den Häusern. Der Lebensraum Wald geht für das Neubauquartier unwiderruflich verloren.“
Das Projektgebiet ist eines von drei großen Arealen, die die IBA Hamburg derzeit auf der Elbinsel Wilhelmsburg plant: Jenseits des Inselparks im Süden erstrecken sich entlang der ehemaligen Trasse der Wilhelmsburger Reichsstraße in nördliche Richtung das Wilhelmsburger Rathausviertel und das Elbinselquartier. Ganz im Norden soll das Spreehafenviertel auf einer Fläche von 20 Hektar die Verbindung von den Wohngebieten des Reiherstiegviertels zum Südufer des Spreehafens schaffen: Das ist schon heute ein beliebtes Naherholungsgebiet. 1100 Wohnungen sollen hier entstehen. Dazu Sportanlagen für die Wilhelmsburger als Ersatz für den Sportplatz Landesgrenze 1 und die Tennisanlage des TSC Viktoria-Wilhelmsburg, die im Baugebiet liegen.
Von einem Wald ist in der Projektbeschreibung der IBA nicht die Rede
In der Projektbeschreibung kommt das Wort „Wald“ nicht vor, aber es ist von einem „Grünzug am Ernst-August-Kanal“, von „erlebbarem Grünraum“ und „großflächigen Baumbeständen“ die Rede. Allein drei Hektar (30.000 Quadratmeter) seien grüne Freiräume, die Sportanlage (drei Fußball- und fünf Tennisplätze) nicht eingerechnet. „Die drei Hektar beziehen sich ausschließlich auf Flächen für Parkanlagen, den großen naturnahen Spielplatz sowie Maßnahmenflächen zugunsten des Naturschutzes“, sagt IBA-Sprecherin Anke Hansing. Der vorhandene Baumbestand sei von besonderer Bedeutung: „Alle Bäume im Spreehafenviertel wurden kartiert und bewertet. Die Kartierungen führten unter anderem zu dem Ergebnis, dass insbesondere entlang des Kanals und entlang der Georg-Wilhelm-Straße sehr erhaltenswerte Bäume stehen.“
In dem Neubauquartier seien rund 860 bestehende Bäume in die Planung integriert worden
Bei der Planung der Freiräume zwischen den meist vier- bis sechsgeschossigen Mehrfamilien- und Stadthäusern sei auf die Bäume Rücksicht genommen worden, betont Hansing. So sei die Bebauungskante weiter nach Norden gerückt worden, damit eine rund 30 Meter breite, grüne Achse entlang des Ernst-August-Kanals bestehen bleibt. „Dadurch kann der hochwertige Baumbestand direkt am Kanal und im östlichen Bereich des neuen Quartiers noch stärker erhalten bleiben“, sagt die Marketing-Chefin der IBA Hamburg GmbH. Auch die Wegeführung nehme auf alte Bäume Rücksicht.
In dem Neubauquartier, für das in diesem Jahr der Bebauungsplan verabschiedet werden soll, seien rund 860 bestehende Bäume in die Planung integriert worden, um die 180 Bäume werden neu gepflanzt werden. „Dies ergibt in Anbetracht von rund 1000 zusätzlichen Wohnungen, Gewerbeflächen mit zusätzlichen Arbeitsplätzen sowie umfangreichen Sport- und Freizeitangeboten ein vielfältiges Quartier“, urteilt Hansing.
Neubaugebiete auf Äckern machen weniger ökologische Schäden
Jan Muntendorf würde dennoch gern den Wald erhalten sehen. Er sei nicht gegen Wohnungsbau. Der sei dringend nötig, sagt der Waldschützer, schließlich gebe es weiterhin einen Zuzug in die Stadt. „Wenn, wie in Oberbillwerder, intensiv bewirtschaftete Äcker bebaut werden, ist der ökologische Schaden gering. Aber gerade der Bezirk Mitte hat wenig Wald und lässt nun weiteren roden. Dabei steht im Koalitionsvertrag, dass jeder Hamburger Bezirk einen Hektar Wald neu aufzuforsten habe.“ Neben dem Lebensraum für Tiere und Pflanzen habe Wald in der Stadt bei Hitze eine wohltuend kühlende Wirkung, so Muntendorf. Der wilde Wald in Wilhelmsburg filtere zudem bei den häufig herrschenden nördlichen Winden Stäube aus dem benachbarten Hafengebiet aus der Luft und schütze damit die südlich liegenden Wohnquartiere.
2024 soll die Erschließung der Baufläche beginnen, heißt es im Planer-Deutsch. Anders gesagt: Dann wird ein Großteil des wilden Waldes allmählich verschwinden. Und der Rest immerhin eine grüne Kulisse bilden. Auch für die Gäste des beliebten Biergartens „Zum Anleger“ (Saisoneröffnung: 8. April) auf der anderen Kanalseite am Vogelhüttendeich. Zum Ende 2026 soll im Spreehafenviertel dann der Wohnungsbau starten.