Harburg. Der ehemalige Michel-Pastor und langjährige Abendblatt-Kolumnist Helge Adolphsen über die Kraft der Musik
Mich faszinieren Kinderchöre. Sie haben eine lange Tradition. Ich denke an die Wiener Sängerknaben. Wenn sie mit ihren klaren Stimmen Weihnachtslieder singen, geht das der Seele nah. Oder an den Windsbacher Knabenchor, der vor Jahren die Zuhörenden im Hamburger Michel begeisterte. Hier in Hamburg gibt es die Alsterspatzen. Dieser Chor mit Mädchen und Jungen ist auch in die Staatsoper integriert.
Ich bin mit 12 Jahren in die Jugendkantorei am Schleswiger Dom gekommen. Alle vierzehn Tage sangen wir im Gottesdienst. Ich bin wie eine ganze Reihe anderer durch das Singen zur Theologie und zu meinem Beruf gekommen. Aus der Kantorei sind in den 50-er Jahren elf mitsingende Pastoren geworden.
Heute gibt es viele Kinder- und Jugendmusikschulen, in denen auch das gemeinsame Singen gepflegt wird. Unter anderem in unserer Nähe, in Harburg, Hausbruch und Neugraben-Fischbek. Aber es geht mir nicht nur um das Singen, sondern auch um das Spielen auf Instrumenten. Es ist erwiesen, dass die musikalische Früherziehung ein wichtiger und prägender Erziehungsbereich ist. Sie wirkt sich positiv auf die Entwicklung von Kindern zwischen 1 und 6 Jahren aus.
Wirkung von Musik beginnt schon während der Schwangerschaft
Durch das Singen und Spielen auf Instrumenten werden die sprachlichen und motorischen Fähigkeiten und die Kreativität der Kinder gefördert. Kundige wissen, dass in unserem Gehirn Sprache und Bewegung sehr stark miteinander verbunden sind.
Wer die Kinder im Kindergarten beim Singen beobachtet, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Sie klatschen und bewegen sich im Rhythmus, und sie tanzen spontan zur Musik. Ich vergesse nicht, dass mitten in der Aufführung des Weihnachtsoratoriums im Michel ein etwa 10-jähriger Junge auf der Empore aufstand und sich taktsicher bewegte und dirigierte. Viele schauten fasziniert auf den Jungen und lächelten.
Aber die Wirkung von Musik beginnt viel früher, nämlich schon während der Schwangerschaft. Singen und angenehme Musik beruhigt und entspannt die werdende Mutter, aber auch das Ungeborene. Höchst erstaunlich: Neugeborene erinnern sich später an Melodien, die sie im Mutterleib gehört haben!
Dass Musik auch kleine Kinder in ihren Ängsten und ihrem Heimweh trösten und stärken kann, wurde mir aus der Braunschweiger „Domsingschule“ berichtet. Sie ist die größte Einrichtung für evangelische Kirchenmusik mit ihren 600 Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ihr pädagogischer Ansatz ist die enge Verzahnung von Entwicklungspsychologie und musikalischen Inhalten.
Jede Woche kommen neue ukrainische Kinder dazu
Jetzt ist ein neuer Kinderchor in die Domsingschule integriert. Elena Petrikova ist die Chorleiterin. Sie hat in der Ukraine mit großem Erfolg Chöre geleitet und wurde international bekannt. Mit ihren beiden Kindern ist sie vor dem Krieg in der Ukraine geflohen. Eine Braunschweiger Familie nahm die drei bei sich auf. Am ersten Tag zeigte sie ihnen die Stadt. Sie gingen auch in den Dom. Elena war tief berührt von dem wahrhaft engelgleichen Kindergesang, den sie da hörte. In ihrem Heimweh und in der Angst um ihren Mann war sie getröstet.
Die Kantorin der Singschule bot ihr spontan einen Raum zum Üben mit einem ukrainischen Chor an. Aber darüber hinaus solle sie auch mit ihrem Chor so schnell wie möglich mit den Gruppen der Domsingschule gemeinsam singen. Elena Petrikova nahm das Angebot sofort an und konnte 17 Kinder um sich versammeln. Anfangs haben die Kinder viel von ihren Erlebnissen im Krieg und von ihrer Flucht erzählt. Aber dann ging es ans Singen. Die erfahrene Chorleiterin weiß, dass die Kinder durch das gemeinsame Singen sich auf die neuen und schönen Erfahrungen konzentrieren können. Vergessen werden sie die traurigen nicht.
Denn jede Woche kommen neue ukrainische Kinder dazu, auch solche, die früher noch nie in einem Chor gesungen haben. Wenn sie das Lied vom roten Schneeball singen, dann klingt dabei auch Wehmut mit. Aber zugleich auch Freude und Stolz. Das Lied ist eigentlich ein altes Volkslied der Ukrainer. Aber gleich nach dem Kriegsausbruch im Februar wurde der patriotische Marsch zu einer Art Nationalhymne. Der Inhalt: Eine gebeugte Pflanze soll wieder aufgerichtet werden. Elena Petrikova und die singenden Kinder wünschen sich sehnlich, dass auch die Ukraine, ihre gebeugte und zerstörte Heimat, bald wieder aufgerichtet wird.
Musik ist eine wunderbare Möglichkeit, wie wir unser Innerstes zum Ausdruck bringen können.