Neugraben-Fischbek. Seit einem Jahr lebt die erste Hamburger Baugemeinschaft südlich der Elbe im neuen Heim. Die Erfahrungen sind durchweg positiv.
Monja und Amr haben alles vorbereitet. Der Kinderkino-Nachmittag kann beginnen. Die Vorhänge der bodentiefen Fenster des Gemeinschaftsraums sind zugezogen, die Sitzgelegenheiten aufgestellt. „Die sind für uns Kinder“, sagt Monja und zeigt auf Hocker im Zwergenformat. „Das hier sind die Stühle für die Erwachsenen und dort“, das Mädchen deutet auf einen Korbsessel mit Kissen und einen mit Wolldecken gepolsterten Schaukelstuhl, „dort sitzen die Älteren.“ „Damit sie es schön gemütlich haben“, ergänzt Amr.
Die beiden Achtjährigen tragen ganz selbstverständlich Sorge für andere. Und sie haben keinerlei Zweifel, dass auch Senioren kommen werden, um gemeinsam mit ihren jüngsten Nachbarn einen Zeichentrickfilm anzuschauen. Hier, im Wohnprojekt Nestbau im Neugrabener Vogelkamp, wird Gemeinschaft ganz groß geschrieben. Ein Jahr nach Fertigstellung der benachbarten Mehrfamilienhäuser Am Moorgürtel am Rande des Vogelschutzgebietes ist aus der Baugemeinschaft auch eine Lebensgemeinschaft geworden.
23 Erwachsene und 13 Kinder bevölkern die 17 Wohnungen
23 Erwachsene und 13 Kinder bevölkern derzeit die 17 Wohnungen. Und alle, Familien, Singles und Senioren, sind glücklich dort. „Ich würde unsere Wohnung niemals tauschen wollen, selbst wenn man mir ein Haus mit Millionenwert anbieten würde“, sagt Gesundheitswissenschaftlerin Sarah, die mit ihrem eineinhalb Jahre alten Sohn Levy das jüngste Mitglied des Wohnprojekts auf dem Arm trägt.
Der Sozialarbeiter Gerald, fünffacher Vater, hat schon vor Jahren in einem Ahrensburger Wohnprojekt Erfahrungen gesammelt. „Diese Art zu leben macht süchtig. Ich möchte nie wieder darauf verzichten“, betont er. Sina, selbstständige Dolmetscherin ohne Nachwuchs, ist über Jahre von einem Wohngemeinschaftszimmer ins andere gezogen, nur um die Zeit bis zum Einzug Am Moorgürtel zu überbrücken – Leben in der eigenen Wohnung und doch nicht allein. So mag es auch Gesine, Buchhändlerin im Ruhestand. Sie präsentiert mit leuchtenden Augen ihr 35-Quadratmeter-Domizil im vierten Stock.
S-Bahnhof Neugraben ist fußläufig eine Viertelstunde entfernt
Vom Balkon reicht der Blick Richtung Süden bis zum Falkenberg und zur Fischbeker Heide, Richtung Norden bis zum Süllberg in Blankenese. Unten sieht man die Kinder zwischen den Häusern mit Bällen kicken. Auf der Spielstraße ist das gefahrlos möglich. Jung und Alt genießen die Lage, naturnah und dennoch in Großstadtnähe. Der S-Bahnhof Neugraben ist binnen einer Viertelstunde fußläufig erreichbar. Mindestens genauso wichtig ist ihnen aber die angenehme Atmosphäre in den Häusern. Das offene und faire Miteinander.
Im wöchentlichen Plenum werden Probleme nach dem Konsensprinzip gelöst. Manchmal sei das mühselig, aber es lohne, finden alle. Um die Versammlungen effizienter zu gestalten, haben sie jetzt zuweilen eine professionelle Moderatorin dabei. Einsatz für die Allgemeinheit und gegenseitige Unterstützung sind selbstverständlich. Das Engagement richtet sich je nach zeitlichen Möglichkeiten, Talent und Neigung. Dass einige momentan mehr tun als andere, wird hingenommen. „Das Potenzial an Zeit und Kraft ändert sich ja mit den Lebensphasen“, sagt Gerald und macht damit einmal mehr klar, dass die Gemeinschaft auf Dauerhaftigkeit angelegt ist. Dafür braucht es ähnliche Lebensentwürfe und Werte der Bewohner.
Holzhybridbauten in der energieeffizienten KfW55-Bauweise
Hier sind alle umweltbewusst, ihr ökologischer „Fußabdruck“ ist ihnen wichtig. So entstanden Holzhybridbauten in der energieeffizienten KfW55-Bauweise, die Flachdächer sind begrünt. Aber auch die Bereitschaft, Aufgaben und Kompetenzen zu bündeln, trägt zur Einsparung von Ressourcen bei. Bei Bedarf werden Lebensmittel geteilt, Einkäufe und Besorgungen für andere mit erledigt. Und wenn Eltern mal zu beschäftigt sind, ihre Kinder zu beaufsichtigen, springen Nachbarn ein.
Für Monja und ihre Geschwister sind Martin und seine Frau auch ohne Blutsverwandtschaft „Opa und Oma“. Da sie selbst kinderlos geblieben seien, genössen sie das sehr, erzählt der ehemalige Landwirt und Gärtner, während er neben dem künftigen Spielplatz einen Baum pflanzt. Hecken einsetzen, Rasen ausrollen, Zaunbau – jeder, der kann, packt mit an. Auch Planung und Bau der Häuser war schon ein Gemeinschaftsprojekt, wenn auch längst nicht alle von Anfang an dabei waren. Wolfgang ist ein Mann der ersten Stunde. „Letztlich hat es von der ersten Idee bis zum Einzug sieben Jahre gedauert. Der entscheidende Schritt war die Gründung einer Kleinbaugenossenschaft“, erzählt der mit 73 Jahren älteste „Nestbauer“.
Maximale Größe einer Wohnung orientiert sich an der Anzahl der Bewohner
Denn die Stadt Hamburg unterstützt Baugemeinschaften im Rahmen der öffentlichen Wohnraumförderung. „Natürlich haben wir bei den Wohnungsgrößen die Förderrichtlinien der Investitions- und Förderbank eingehalten, um die höchstmögliche Förderung zu erhalten“, berichtet Wolfgang, dessen Wohnung 45 Quadratmeter misst. Die maximale Größe einer Wohnung orientiert sich an der Anzahl ihrer Bewohner. In der größten Einheit mit über hundert Quadratmetern lebt Gerald mit seiner Patchwork-Familie. „Ein Eigenheim hätte weit über unseren finanziellen Möglichkeiten gelegen“, sagt er.
In einem staatlich unterstützten Projekt wie diesem am Vogelkamp bemisst sich die Höhe der Förderung nach dem Einkommen der Familien. Vorteil einer solchen Baugemeinschaft sind aber nicht allein günstige Wohnkosten weit unter dem üblichen Mietenspiegel, und das über Jahrzehnte. Eine Baugemeinschaft bietet auch Sicherheit. „Kündigung wegen Eigenbedarf ist in einer Genossenschaft ausgeschlossen“, erklärt Wolfgang. Der Rechtsanwalt fungiert als Aufsichtsratsvorsitzender der Genossenschaft.
Die Baugemeinschaft ist genossenschaftlich organisiert
Um ein solches Ehrenamt zu bekleiden, braucht es beim „Nestbau Vogelkamp“ weder fortgeschrittenes Alter noch berufliche Erfahrung. Der Vorstandsvorsitzende ist noch Student und erst Mitte 20. Die Besetzung der Ämter war keine Schwierigkeit. „In vielen Vereinen und Verbänden will ja niemand Verantwortung und Aufwand der Leitung auf sich nehmen“, weiß Wolfgang. „Aber bei uns ist klar: Wir tragen auch diese Aufgaben gemeinsam.“ Es müsse zwar jemanden geben, der verantwortlich zeichne, aber letztlich würde niemand allein gelassen.
Wolfgang tritt auf die Dachterrasse vor seinem Wohnzimmer. Südlage, Panoramablick. Er atmet tief durch. „Wir haben riesiges Glück gehabt.“ Längst gibt es eine Warteliste von Interessenten, die auch gern Teil dieser Gemeinschaft würden. Ihre Aussichten stehen schlecht. Dass jemand in absehbarer Zukunft auszieht, ist unwahrscheinlich. Die guten Erfahrungen des ersten Jahres haben allesamt zu Nesthockern gemacht.