Harburg. Wie in der Harburger Upcycling-Werkstatt ausgediente Gegenstände eine neue Bestimmung und Aufwertung erfahren.
Ein Gruppenfoto? Na klar! Aber bitte mit Tasche! Die Frauen sind Feuer und Flamme. Im Nu stehen sie aufgereiht am Küchgarten. Hier, im Herzen Harburgs, befindet sich das Sozialkaufhaus fairKauf des eingetragenen Vereins IN VIA Hamburg. Und gleich daneben liegt die Werkstatt, in der die Frauen aus Altem, Nutzlosem, völlig Neues und Wertvolles erschaffen. Momentan fertigen sie Taschen. Und deshalb trägt jede eine „Bagup“ aus eigener Manufaktur und Stolz im Blick.
Rucksäcke, Bauch- und Handtaschen bestehen aus gebrauchten Festival-Planen in Kombination mit kaputten Fahrradschläuchen. Aus Dingen also, die auf dem Müll gelandet wären, hätte das IN VIA-Team ihnen keine neue Bestimmung gegeben. Upcycling wird die Zweitnutzung und gleichzeitige Aufwertung ausgedienter Materialien und Gegenstände genannt. Die Taschenproduktion nützt vielen: Festival-Organisatoren sowie Zweiradreparatur-Werkstätten sparen Entsorgungsgebühren. Für die Herstellung der Taschen werden kaum Rohstoffe und wenig Energie verbraucht. Die Kunden erfreuen sich an wasserdichten, unverwüstlichen, praktischen und originellen Unikaten. Denn je nach Aufdruck des Werbebanners und gewähltem Ausschnitt hat jedes Stück ein einzigartiges Design.
Die Taschen sind ein aktiver Beitrag zum Umweltschutz und gleichzeitig eine Aussage
Die Taschen sind Beitrag und Statement zum Umweltschutz. Und für Festival-Fans noch dazu ein Stück schöner Erinnerung. Vor allem aber profitieren die Frauen selbst. Bevor sie in der Upcycling-Werkstatt einstiegen, waren sie langzeitarbeitslos, manche hatten noch nie zuvor eine feste Stelle. Nun haben sie einen Fünfjahresvertrag, erwirtschaften ihren Lohn durch den Verkauf der Produkte.
„Dass Menschen bereit sind, für ihre Werke Geld auszugeben, sie mit ihrer Arbeit also Wertvolles schaffen, war anfangs für manche Mitarbeiterinnen eine Offenbarung“, erklärt Sandra Kloke, Geschäftsführerin von IN VIA Hamburg. Bis heute sind die Erfolgserlebnisse enormer Ansporn für die Frauen. Sie sorgen für Spaß an der Arbeit, fördern Kreativität und Selbstbewusstsein. Zudem stellt Sozialpädagogin und Team-Coach Dominika Colmorgen sicher, dass den Mitarbeiterinnen je nach Lust und Vermögen neue Fertigkeiten und Kenntnisse vermittelt werden.
Viele Frauen erfahren über die Werkstatt Ansporn und Wertschätzung
So absolvierte die gelernte Verkäuferin Silvia Schulz eine PC-Fortbildung und koordiniert nun die Verwaltung, ist für Bestellungen, Kundenanfragen und Recherchen zuständig. Razia Khan, die zuvor nie eine Nähmaschine bedient hatte, erlernte den professionellen Umgang mit einer Industrie-Maschine. Ihre Arbeit, genau wie die ihrer Kolleginnen, ist äußerst sauber und präzise. Dabei ist die Verarbeitung steifer Planen und dicker Schläuche alles andere als einfach.
Versierte Anleitung gibt Astrid Penkin, einst als Polsterin tätig, dann lange Zeit arbeitssuchend. Dass auch eine gelernte Näherin wie Hatice Dinvar sich durch ihren Job weiter entwickelt, zeigt ihre Fantasie in der Textilgestaltung. Seit sie bei IN VIA arbeitet, entwirft die 49-Jährige neue Taschen-Modelle und näht ausgefallene Kleidungsstücke. So hat sie den Ausschnitt ihres Shirts mit dem Hosenbund einer alten Jeans verziert. Mit löchrigen Jeans und altmodischen Kitteln fing alles an. „Wir bekamen Spenden, die wir im Sozialkaufhaus nicht an den Mann bringen konnten. Wer kauft heute noch Küchenschürzen von anno dazumal? Und die Jeans aus zweiter Hand waren oft stark abgewetzt, nur die unteren Hosenbeine sahen noch gut aus“, berichtet Sandra Kloke.
Angefangen hat alles mit Spenden im Sozialkaufhaus, nicht nicht verwendbar waren
Weil es aber zur Philosophie von fairKauf gehört, alles irgendwie Brauchbare zu nutzen, wurden gut erhaltene Stoffteile ausgeschnitten und daraus zunächst Einkaufsbeutel genäht. „Schon lange vor dem Verbot von Plastiktüten wurden Stoffbeutel an die Kunden des Sozialkaufhauses abgegeben“, sagt Sandra Kloke stolz. Da sich auch gespendete Krawatten als Ladenhüter erwiesen und sich zu hunderten ansammelten, entstand die Idee, daraus farbenprächtige Kissenbezüge und extravagante Kleider zu schneidern.
Inzwischen umfasst das Sortiment auch Lampenschirme aus jenen halb transparenten Werbebannern, deren dünnes Gewebe sich für die Taschenproduktion nicht eignet. Eine Jalousie aus diesem Material schmückt ein Werkstattfenster. Es gibt bereits Interessenten, aber noch ist die Herstellungstechnik für Serien-Produktion nicht ausgereift. Was gut anläuft, sind Schminktäschchen aus Milch- und Saftkartons. Die Tetrapacks werden vor der Verarbeitung aufgeschnitten, gesäubert, getrocknet und ihrer äußeren Schicht entledigt, verziert und in Form genäht. Ein enormer Arbeitsaufwand, der bezahlt werden muss. Schließlich werden die Mitarbeiterinnen nach Tarif entlohnt. Auch die Taschen aus Plane und Schlauch sind nicht billig. Einen Rucksack mit Laptopfach gibt es ab 138 Euro.
Der Verkauf läuft über das Internet und jetzt auch wieder direkt
Der Verkauf läuft über das Internet und nun, gegen Ende der Pandemie, auch wieder direkt bei den Festivals, von deren früheren Veranstaltungen die Planen stammen. In Wacken oder beim Hurricane in Scheeßel etwa wird ein Teil des Teams als Verkäuferinnen dabei sein. „Dort werben wir für unser Projekt und tauschen uns mit Festivalbesuchern aus, erfahren etwas über deren Vorlieben und Bedürfnisse, was Taschen betrifft. So bekommen wir immer neue Anregungen“, erzählt Sandra Kloke. Was Sie sich für die Zukunft wünscht? „Wir könnten noch mehr Spender von Planen gebrauchen, um noch größere Kreise von Festival-Fans bedienen zu können.“