Harburg. Viel ist nicht mehr zu sehen vom ehemaligen „Bolero“ am Harburger Sand. Ein paar Betonstützen stehen noch, die Glasfront wird gerade abgebrochen

Viel ist nicht mehr zu sehen vom ehemaligen „Bolero“ am Harburger Sand. Ein paar Betonstützen stehen noch, die Glasfront wird gerade abgebrochen, die Rückwand ist schon weg. Danach wird auch das untere Geschoss verschwinden – und damit ein Zeugnis neuerer Harburger Geschichte. Kein architektonisches Schmuckstück, aber ein Gebäudekomplex, an den viele Harburger Erinnerungen knüpfen.

Hier, wo der letzte Ausläufer des Schwarzenbergs auf das flache Flusstal der Elbe trifft, befand sich auf dem Dach eines Betongebäudes, das in den 1970er-Jahren in den Bergfuß gezwängt wurde, der Harburger Blumenmarkt, durch eine Treppe verbunden mit dem restlichen Wochenmarktgeschehen.

Hamburgs erste McDonalds-Filiale

Daneben lag ein quaderförmiges Gebäude, das von unten, vom Marktplatz aus betrachtet, aussah, wie ein Penthouse. Von oben, von der Neuen Straße aus, wirkte dieses Gebäude beinahe, als hätte es die natürliche Höhe der anderen Häuser am Hang. Hier eröffnete Hamburgs erste Filiale der Fast-Food-Kette McDonald’s.

Darunter befand sich – man glaubt es heute kaum noch – der Porsche-Verkaufsraum des Autohauses Raffay. Später zogen hier nacheinander zwei Supermärkte ein. Ebenfalls im Untergeschoss lag ein Fernseh-, Phono- und Schallplattengeschäft. So mancher heute alte Harburger ging in seiner Jugend mit 20 Mark Taschengeld dorthin und mit dem Wechselgeld ins Schnellrestaurant.

Aktualisierte Animation der Westrandbebauung an der Marktfläche Sand.
Aktualisierte Animation der Westrandbebauung an der Marktfläche Sand. © Schenk + Waiblinger Architekten und BRICK | Schenk + Waiblinger Architekten und BRICK

In den 1990er-Jahren begann der Wandel. Oben ein Upgrade: Die Fast-Food-Kette schloss ihre Stadtfilialen und eröffnete größere an den Hauptverkehrsstraßen sowie kleinere in Einkaufszentren. Das „Bolero“ eröffnete anstelle der Burgerbratküche. Einerseits als Restaurant ein Systemgastronomiefranchise, mit moderner aber nicht außergewöhnlicher Speisekarte. Außergewöhnlich war der Wirt: Toni Militsis, einst als Amateurfußballer ziemlich erfolgreich, bekannter Partylöwe, Hans-Dampf-in-allen-Gassen und Stimmungskanone. Er hatte bereits eine Disko in der Altstadt betrieben.

Wochenenden im Bolero waren legendär

Zu vorgerückter Stunde rückte die Küche im „Bolero“ in den Hintergrund, die Cocktailgläser wurden wichtiger und die Discokugel begann, sich zu drehen. Die Wochenenden im Bolero waren legendär. 2008 starb Toni Militsis mit nur 44 Jahren. Sein Geschäftspartner Oliver Klühn machte weiter. Das „Bolero“ blieb ein wichtiger Treffpunkt. Die Stimmung aus Toni Militsis’ Zeiten wurde allerdings nie wieder erreicht.

Unten ging es eher bergab: Schallplatten wurden weniger wichtig und Technik-Kaufhäuser machten dem Fernsehhändler das Leben schwer. Er schloss. Ein Second-Hand-Bekleidungsgeschäft zog ein, danach ein Gemüsehändler mit meist welker Ware, dann stand dieser Teil leer. Auch der Supermarkt ging und suchte sich etwas größeres. Eine Videothek zog ein.

Dann stellten Bauprüfer fest, dass der Blumenmarkt mit den Liefer-Lkw, die zum Auf- und Abbau kamen, wohl zu schwer für die Dachkonstruktion war, auf der er stand. Es bestand Einsturzgefahr. Die Blumenhändler waren ohnehin weniger geworden und passten jetzt auf die Wochenmarktfläche. Oben nutzte das „Bolero“, mittlerweile von der Franchise-Kette getrennt und in „Southside“ umbenannt, den freien Platz als riesige Außengastronomiefläche, bis das Bezirksamt dies untersagte – ausgerechnet kurz vor der Fußball-WM 2014, für die Oliver Klühn schon große Public Viewings geplant hatte.

Southside ist in den Landkreis umgezogen

Spätestens seitdem plant der Bezirk, hier neu zu bauen. Allerdings war der Teil mit Videothek und Restaurant in Privatbesitz und musste zunächst gekauft werden. Außerdem liefen die Pachtverträge noch lange. Zuletzt hatte das „Southside“ noch einmal Gnadenfrist , weil die Abrissgenehmigung sich verzögerte. Jetzt knabbert ein Bagger Beton, wo einst Barkeeper den Shaker schwangen. Das Southside ist in den Landkreis umgezogen und derzeit wegen Corona geschlossen.

Ein teilweise bis zu 25 Meter hoher Neubau soll der Westseite des Marktplatzes ein neues, moderneres Antlitz geben. Die Hamburger AVW Immobilien AG wird nach eigenen Angaben etwa 30 Millionen Euro investieren und in dem Gebäude 60 bis 70 Senioren-Wohnungen schaffen, die zwischen 30 bis 60 Quadratmeter groß sind. 30 Prozent der Wohnungen werden öffentlich gefördert sein. Ursprünglich sollten Studenten in den Neubau einziehen, aber der Investor sieht mittlerweile den Markt für Studentenwohnungen in Harburg als übersättigt an. Das sehen Studierende zwar anders, aber auch Altenwohnungen sind angesichts des demografischen Wandels ein Zukunftsmarkt. Gut möglich, dass einst Harburgs Babyboomer auf dem Seniorenbalkon über alte Zeiten, Schallplatten und Bolero-Partys sinnieren.