Harburg. Gemeinsames Singen in Probenräumen bleibt wegen Infektionsgefahr verboten. Digitale Videokonferenzen sind nur ein schwacher Trost.
Montagabend, 19.30 Uhr. Chorleiterin Christine Wolter steht in ihrem Arbeitszimmer vor dem Klavier, gestikuliert mit den Armen, dann spielt sie ein paar Töne und ruft in den Laptop, den sie auf dem Instrument platziert hat: „Könnt ihr mich hören?“ Die Gesichter auf dem Bildschirm nicken, die Teilnehmer heben die Daumen. Christine Wolter gibt den Einsatz und die Sänger im digitalen Raum erheben ihre Stimme. Doch im Arbeitszimmer der Chorleiterin bleibt es still. Sie hört nur ihren eigenen Klang. Genauso wie Marita und Andreas, Beate und Steffi und die 14 weiteren Singriesen der St. Petrusgemeinde, die an diesem Abend zur 90-minütigen Chorprobe per Zoom zusammengekommen sind.
Probenräume häufig zu klein für Treffen unter Abstandsregeln
So wie den Singriesen geht es derzeit vielen Chören in der Region. Da ein Treffen in den oft kleinen Proberäumen aufgrund des Infektionsrisikos nicht erlaubt ist, weichen Sänger und Musiker auf Alternativen aus. Sie arbeiten per Videokonferenz, nehmen Lieder per Handy auf, schneiden Stimmen zusammen und veröffentlichen ihre Songs auf Youtube. Seit der Lockerung der Kontaktsperre gibt es seit kurzem auch erste gemeinsame Proben, allerdings mit drei Metern Abstand und nur wenigen Sängern.
Chorarbeit funktioniert nicht per Video
„Am Anfang haben wir uns gefreut, dass es über eine digitale Videokonferenz überhaupt eine Möglichkeit für uns gibt, zusammenzukommen“, sagt Christine Wolter. „Doch schnell haben wir gemerkt, dass Chorarbeit, wie wir sie kennen, auf diesem Weg nicht funktionieren kann.“ Das Problem ist vor allem ein Technisches: Durch die digitale Übertragung kommt es zu Verzögerungen von Bild und Ton zwischen Sender und Empfänger, der sogenannten Latenz. Der harmonische Klang des Chorgesangs ist dadurch unmöglich.
Chorleiter müssen ohne Ton dirigieren
Für den Chorleiter heißt das: alle Sänger beim Unterricht stumm zu schalten und damit ohne Ton zu dirigieren. Auch für die Sänger eine ungewohnte Situation. Sie stehen zu Hause an Küchen- oder Schreibtisch, befolgen die Anweisungen aus dem Laptop oder Tablet und singen allein, jeder für sich. „Für das Training der eigenen Stimme kann das durchaus sinnvoll sein“, sagt Christine Wolter. „Aber das gemeinsame Chorerlebnis bleibt komplett auf der Strecke.“
Genau die Befürchtung hatte Carsten Creutzberg, als er sich Ende März darüber Gedanken machen musste, wie er unter Coronabedingungen mit seinem Popchor singAsong weiterarbeiten möchte. „Dabei habe ich mir vor allem Gedanken darüber gemacht, wie ich die Sänger motivieren kann“, sagt Creutzberg. Wegen der Pandemie musste das große Jubiläumskonzert zum 20-jährigen Bestehen im ausverkauften Saal des Rieckhofs abgesagt werden. „Das war ein harter Schlag“, sagt Carsten Creutzberg.
Jede Stimme einzeln eingesungen – dann Zusammenschnitt
Um die Sänger aufzumuntern, entschied sich der Musiker für ein neues Projekt. Er forderte die Chormitglieder auf, ihre Stimmen zu Hause per Video einzusingen. „Anschließend habe ich das Material zusammengeschnitten und den Song auf Youtube veröffentlicht“, sagt er. Von den 45 aktiven Sängern ließen sich 15 auf das Experiment ein. Diese hatten so viel Spaß, dass sie gleich mehrere Titel aufnahmen.
„Auf diese Weise bleiben wir Sänger miteinander in Kontakt und sorgen gleichzeitig dafür, dass wir unser Online-Portfolio aufstocken“, sagt Chormitglied Peter Rutterschmidt. „Die Videos können wir später nutzen, wenn wir uns für Auftritte bewerben wollen.“ Inzwischen treffen sich die Sänger von singAsong auch wieder persönlich, in kleinen Gruppen mit genügend Abstand im Musikraum des Friedrich-Ebert-Gymnasiums. Chorleiter Creutzberg bringt jedes Mal das gesamte technische Equipment mit, um einzelne Stimmen aufzunehmen. „Das ist ein enormer Aufwand“, sagt er. „Aber wir sind froh, dass es diese Möglichkeit gibt, überhaupt mal wieder gemeinsam aktiv sein zu können.“
Erste Probe unter freiem Himmel
So geht es auch den „Ohrwärmern“. Der Chor der KulturWerkstatt Harburg hat sich am vergangenen Donnerstag zum ersten Mal seit Ende Februar wieder gesehen. „Wir sind ein integrativer Chor, haben auch Sänger mit Handicap“, sagt Chorleiterin Ulrike Lachmann. „Da gibt es gar nicht die Möglichkeit, digital zu proben.“ Also hat sie die 15 Sänger nach dreieinhalb Monaten Pause jetzt erstmals zu einer Probe unter freiem Himmel gebeten - zwischen KulturWerkstatt und Kaimauer. „Wundert euch nicht“, sagt sie zur Begrüßung. „Das hier ist anders. Ein bisschen wie vom Winde verweht.“ Auch wenn der Klang sich schnell in der Luft verliert und die Geräusche des Hafens irritieren, sind die Chormitglieder froh, dass sie überhaupt gemeinsam singen können.
Was wird aus dem Spirit bei Gospel Train?
Davon ist der international bekannte Jugendchor Gospel Train der Goethe-Schule-Harburg noch weit entfernt. Die Schulbehörde hat das Singen in Kleingruppen unter freiem Himmel untersagt. Eine Entscheidung, über die sich Peter Schuldt mächtig ärgert. Der Chorleiter sieht die Gefahr, dass auf Dauer der Kontakt zu den Sängern abreißt, der Spirit verloren geht, wenn keine Treffen möglich sind. Zwar sieht er seine Zöglinge jeden Mittwoch zur gewohnten Probezeit via Zoom. Doch das, was den Chor ausmacht, bleibe hier auf der Strecke. „Bei uns geht es normalerweise darum, dass die Kleineren von den Größeren lernen, es geht um die Gemeinschaft und die Leidenschaft, die entsteht, wenn man zusammen singt“, sagt Peter Schuldt. „Das alles fällt jetzt weg.“ Hinzu komme, dass einige Schüler zu Hause gar nicht die technischen Voraussetzungen hätten. „Die können also nicht mehr mitmachen“, so Schuldt, der jetzt versuchen will, Spender für Notebooks und Tablets mit Videofunktion zu finden.
Audiodateien per Dropbox für die Chormitglieder
Damit die Sänger trotz der Einschränkungen in Übung bleiben, hat Peter Schuldt inzwischen einen Großteil des Repertoires eingespielt und als Audiodatei per Dropbox seinen Schülern zur Verfügung gestellt. Auch die Noten können sich die Sänger dort herunterladen. Jetzt sollen sie ihre Stimmen mit dem Handy aufnehmen und als Video an ihren Chorleiter zurücksenden. Dieser will daraus Übungsstücke machen, die den jüngeren Schülern beim Lernen helfen sollen. „Eigentlich bringt das überhaupt nichts“, sagt Peter Schuldt. „Viel wichtiger wäre es, dass wir uns mal wieder sehen. Der Faden darf nicht reißen.“
Hinter Konzertterminen steht ein Fragezeichen
Gern würde er die Sänger zu solistischen Proben in seinen Garten einladen. Doch auch das ist bislang für Schüler nicht erlaubt. Also muss Schuldt weiter via Internet für gute Laune sorgen, obwohl er sich selbst so fühlt, als trüge er eine Bleiweste am Körper. „Alles, worauf Gospel Train jahrelang hingearbeitet hat, bricht nun zusammen“, sagt er. „Das ist ein unglaublicher Frust.“ 16 Konzerte von Gospel Train und dem schulübergreifendem Chor Young ClassX sind zwischen März und Juli ausgefallen. Auch das Benefizkonzert in Wismar, das jedes Jahr im September vor 800 Zuschauern in der St.-Nikolai-Kirche stattfindet, steht auf der Kippe. Ob die großen Jahreskonzerte wie gewohnt in der Friedrich-Ebert-Halle stattfinden können, ist unklar. Doch Schuldt wäre nicht Schuldt, wenn er nicht die Zeit nutzen würde, um kreativ zu sein. Aktuell sitzt er an einem neuen Song, der ideal in diese Zeit passt. Ein Song, der nach vorne geht. „Als Zeichen“, sagt er, „dass wir wieder durchstarten.“