Tostedt. Die pieksigen Säuger finden immer weniger geeigneten Lebensraum – da ist eine Mutter mit vier Kindern auf dem Grundstück selten.
Es ist längst heller Tag, aber unsere Pfleglinge sind noch nicht zum Frühstück erschienen. Die Schüssel mit Katzenfutter, vermischt mit nahrhaften Haferflocken, steht heute erstmals unberührt auf der Terrasse. Seit etwa zwei Wochen füttern wir eine Igelin und ihren Nachwuchs. Die Alte kam bisher regelmäßig in der Abend- und Morgendämmerung zum Fressen. Manchmal allein, oft begleitet von einigen ihrer Kleinen. Gestern war sie mit vier Jungen da.
„Da erleben Sie etwas ganz Besonderes“, sagt Andrea Kaestner-Pansegrau, die mit ihrem Mann Eckhardt in Tostedt-Land eine Igel-Station betreibt. Die Eheleute gehören als Fachmitglieder dem Verband „Pro-Igel“ an und geben Tipps, wie Gartenbesitzer und Naturfreunde Igel unterstützen können. Ehrenamtlich betreiben sie eine von bundesweit 176 Igelstationen. Denn Igel brauchen Hilfe, Aufmerksamkeit und Verständnis. Seit circa 15 Millionen Jahren besitzt die Art ihr jetziges Aussehen, gehört erdgeschichtlich zu den ältesten noch existierenden Säugetierformen. Doch aktuell ist sie bedroht.
Es fehlt an geeignetem Lebensraum
Die Gründe sind vielfältig. Es fehlt an geeignetem Lebensraum, an Nahrung und zeitweise auch an Wasser. Dafür gibt es umso mehr natürliche und menschengemachte Gefahren. Schon immer mussten Igel Uhu, Fuchs, Dachs, Hund und Katze fürchten. Nun aber auch Autos, Motorsensen und Mähroboter. Und vor denen schützt das igeltypische Erstarren und Zusammenrollen zu einer Stachelkugel nicht. „Man bringt uns oftmals schwer verletzte Igel“, seufzt Andrea Kaestner.
Ein guter, reich gegliederter Lebensraum für Igel bietet Nistgelegenheiten in Hecken. Daran fehlt es vielerorts. Und zwar gerade auf dem von land- und forstwirtschaftlichen Monokulturen geprägten Land. Deshalb leben Igel inzwischen überwiegend im menschlichen Siedlungsraum.
Ein Problem: Zäune und Mauern
Doch auch in Gärten haben sie es mittlerweile schwer, denn parkartige Grundstücke mit heimischen Stauden, dichtem Gebüsch, hohem Gras und blühenden Unkräutern sind rar. Wildwuchs liegt nicht im modischen Trend. Verbreitet sind kurz geschorene Rasen, gesäumt von Koniferen, Kirschlorbeer oder sogar sterilen Kiesel- und Pflasterflächen, die weder Unterschlupf noch Nahrung für Igel bieten.
Ein zusätzliches Problem stellen Zäune und Mauern dar. Egal ob modernes Flechtgitter oder nostalgische Feldsteinmauer – beide Begrenzungen sind für die kurzbeinigen Kleinsäuger unüberwindbar. Dabei brauchen sie viel Fläche, um ihren Hunger zu stillen. Laut „Pro-Igel“ beträgt der Aktionsraum der Igelmännchen in ländlichen Gegenden oft mehr als 100 Hektar, der von Weibchen soll bis zu 30 Hektar groß sein.
Denn Igel ernähren sich überwiegend von Insekten und deren Larven – und die werden bekanntlich immer rarer. Käfer, Ohrwürmer und Schmetterlings-Raupen gehören zu den Lieblingsspeisen, aber auch Spinnen, Asseln, Regenwürmer und Schnecken, sogar tote Mäuse und Frösche stehen auf dem Igel-Speiseplan. Obst und Gemüse dagegen verschmähen sie. „Wenn sie an einem Apfel knabbern, dann um einen Wurm darin zu suchen“, erklärt Eckhardt Pansegrau.
Hunger treibt die Igel zur Unzeit aus dem Nest
Igel sind nachtaktiv – eigentlich. „Unsere“ Igelin entdeckten wir erstmals im hellen Sonnenschein. Der Hunger muss die stillende Mutter zur Unzeit aus dem Nest getrieben haben. Und so starteten wir die Katzenfutter-Aktion. Wildtierfütterung ist grundsätzlich umstritten. Man pfusche der Natur ins Handwerk, treibe die Tiere in Abhängigkeit vom Menschen, verhindere womöglich, dass Jungtiere überhaupt lernten, sich selbst artgerecht zu versorgen, meinen Gegner. Die Tostedter und viele andere Igel-Schützer sehen das anders. Die Pansegraus sind überzeugt, dass Igel heute Hilfe brauchen, vor allem vor und nach dem Winterschlaf.
Die kalte und daher nahrungsarme Zeit von November bis April überbrücken sie in einer Art Energiespar-Modus mit deutlich herabgesetzter Körpertemperatur, Herzschlag- und Atemfrequenz. Bis zu einem halben Jahr kommen sie so ohne Nahrung aus, verlieren dabei aber 20 bis 40 Prozent ihres Körpergewichts.
Die Fütterungs-Befürworter meinen: Wenn die Igel schon im Sommer durch Hunger geschwächt wurden, fällt es schwer sich im Herbst die nötige Fettschicht anfressen. Auch die Dürre dieses und des vergangenen Jahres hat den Stacheltieren zugesetzt. Wegen leerer Gräben und trockener Senken seien viele Igel verdurstet, meint Andrea Kaestner.
„Man hat uns dehydrierte und abgemagerte Tiere gebracht, die wir erst mal an den Tropf hängen mussten“, berichtet die Igelfreundin. Sie appelliert deshalb, flache Wasserschälchen in den Garten zu stellen. „Das würde vielen Tieren helfen.“ Andererseits müsse verhindert werden, dass durstige Igel in tiefe Becken mit steilen Rändern fallen und ertrinken. Unser eigener Tümpel unter der Regenrinne hat flache Ufer und der Gartenteich ist durch einen engen Staketenzaun für Enkel wie für Igel sicher.
Igel trinken gern Milch? Falsch!
Übrigens ist es ein weit verbreiteter, fataler Irrglaube, dass Igel gern Milch trinken. Sie sind Laktose-intolerant und Milchgenuss verursacht ihnen schlimme Verdauungsbeschwerden, schlimmstenfalls mit tödlichem Ausgang.
Gerade unerfahrene Jungtiere probieren aber vieles aus. Kürzlich weckte uns mitten in der Nacht lautes Scheppern auf der Terrasse. Es war aber kein Einbrecher am Werk, sondern ein Igelkind, das eine leere Bierflasche umgestoßen hatte. Die Nase in die Öffnung gepresst, schob es das Glas hin und her. Offenbar gefiel ihm der Duft.
Igel haben einen ausgezeichneten Geruchssinn. Auch ihr Gehör, das bis in den Ultraschallbereich reicht, hilft bei der Orientierung. Das Sehvermögen ist nur mäßig ausgeprägt. Die Kleinen sind bei der Futtersuche auf sich selbst angewiesen, sobald sie etwa sechs Wochen alt sind. „Unsere“ Babys werden noch gestillt. Wir konnten beobachten, wie ein Junges hartnäckig versuchte, seine Schnauze unter Mutters Brust zu schieben, während die sich noch nach am Napf stärkte.
Um sicher zu sein, dass sie gut entwickelt sind, haben wir drei Tiere des Quintetts kürzlich gewogen: Die Alte wiegt 950 Gramm und kann es sich, recht wohl genährt, offenbar leisten, die Kleinen noch zu säugen, obwohl die schon etwa 350 Gramm auf die Waage bringen. Wir sind zuversichtlich, dass sie noch genügend zunehmen, bevor es richtig kalt wird. 550 Gramm gelten als unverzichtbar fürs Überleben des Winters. Es braucht also eine Speckschicht und eine gut isolierte Höhle.
Trockenes Laub schützt vor Kälte
Bisher lebt die Familie direkt an unserer Hauswand, vom Dachüberstand vor Regen geschützt und von einem großen, dichten Rosmarinbusch vor Blicken und Angreifern verborgen. Vor Kälte schützt darin eine Schicht aus trockenem Laub. Gelegentlich sah man die Alte im Maul neues Material zum Auspolstern herbei schaffen. Dabei war es mittlerweile offenbar so eng, dass ihr Hinterteil herausragt, wenn alle beisammen sind.
Jetzt scheint das Nest erstmals leer zu sein. Womöglich hat sich die Familie bereits zerstreut. Das wäre traurig für uns, entspräche aber dem Lauf der Natur. Igel sind Einzelgänger. Mutter Igel und ihre Kinder werden demnächst getrennte Wege gehen und ein jeder über kurz oder lang seinen eigenen Winterunterschlupf bauen.
„Nur sehr selten kommt es vor, dass Geschwister beisammen bleiben“, sagt Andrea Kaestner. Wir hoffen, dass die Igel in der Nähe ein Domizil finden. Deshalb werden wir unseren Garten ein bisschen mehr verwildern lassen. Das Laub unter den Hecken bleibt liegen und der herbstliche Astschnitt wird zu Haufen aufgeschichtet.