Harburg . Ravzas Wunschschule hat keinen Platz mehr. Also schickte die Behörde die Zehnjährige zur Schule nach Wilhelmsburg.
Ravza Bulut hatte sich so auf ihre neue Schule gefreut. Darauf, sich mit ihren Cousinen und Freundinnen auf den Weg zur Goethe-Schule-Harburg zu machen und dort gemeinsam zu lernen. Doch daraus wird nun nichts. Die Zehnjährige hat eine Absage von ihrer Wunschschule bekommen. Doch nicht nur das. Auch der Zweitwunsch, das Alexander-Humboldt-Gymnasium in Rönneburg sowie der Drittwunsch, konnte nicht erfüllt werden. Stattdessen wurde das Mädchen, entgegen seinem Willen, der Stadtteilschule Stübenhofer Weg zugeteilt - einer Schule, die rund sieben Kilometer von seinem Zuhause entfernt liegt.
Elf Stationen Bus, S-Bahnfahrt und 300 m Fußweg
Für die Grundschülerin von der Schule Kapellenweg und ihre Eltern Muzaffer und Yeter Bulut brach mit der Nachricht eine Welt zusammen. „Ich konnte es nicht fassen, dass die Behörde meiner Tochter einen Schulweg von 45 Minuten zumuten will“, sagt Muzaffer Bulut. „Von unserer Wohnung in Wilstorf bis zur Stadtteilschule Stübenhofer Weg müsste sie insgesamt elf Stationen mit dem Bus fahren, außerdem die S-Bahn benutzen und noch weitere 300 Meter zu Fuß laufen.“ „Unzumutbar“, findet auch ihre Mutter. Sie brach in Tränen aus, als sie die Absage bekamen.
Ravza ist nicht das einzige Kind im Bezirk, dessen erster, zweiter und dritter Schulwunsch nicht erfüllt worden ist. Insgesamt neun Zehnjährige teilte die Behörde entgegen ihrem Willen der Stadtteilschule Stübenhofer Weg zu.
„Ein Skandal“, wie Birgit Stöver, bildungspolitische Sprecherin der CDU in der Hamburgischen Bürgerschaft urteilt. „Man stelle sich vor: Die Kinder sollen mit Ranzen vollgepackt in überfüllten Bussen und S-Bahnen zur Schule fahren.“ Dies zeige wieder einmal die Schulpolitik-Misere der aktuellen Regierung. Es fehle an Bedarfsplanung, und das auf Kosten der Kinder.
Der Schulweg sei dem Alter angemessen
Kinder wie Ravza, die immer gern zur Schule gegangen ist. Und die sicher war, dass sie auf die gleiche weiterführende Schule würde gehen können wie ihre Cousinen Sabeha und Eylül. „Ich durfte ja schon bei der Anmeldung Anfang Februar der Schulleitung der Goethe-Schule-Harburg erzählen, dass ich unbedingt mit meinen Freundinnen Roberta und Younice in eine Klasse kommen möchte. Sie haben all meine Wünsche notiert und beim Abschied ‘Auf Wiedersehen’ gesagt.“ Um so größer war die Enttäuschung, als am 1. April völlig unerwartet die Absage kam. „Ebenso wie unsere Schule können auch die anderen Schulen, die Sie bei der Anmeldung angegeben haben, Ihr Kind leider nicht aufnehmen, weil die Zahl der Anmeldungen deren Aufnahmemöglichkeiten übersteigt“, heißt es in dem Schreiben der Schule. „Die jetzt zugeteilte Schule gewährleistet, gegebenenfalls unter Nutzung des HVV, einen noch altersangemessenen Schulweg.“
Die Eltern schalteten einen Anwalt ein
Für Muzaffer Bulut war sofort klar, dass sie ihrer Tochter auf keinen Fall einen solchen Schulweg zumuten werden. Gemeinsam mit seiner hochschwangeren Frau fuhr der 37-Jährige am nächsten Tag direkt zur Schulbehörde in die Hamburger Straße. „Wir wollten unbedingt persönlich Widerspruch gegen den Bescheid einlegen“, sagt er. „Aber es gab niemanden vor Ort, mit dem wir sprechen konnten.“ Also schaltete er einen Anwalt ein. Dieser konnte die Schulbehörde unter Androhung einer Klage dazu bewegen, den Fall Ravza noch einmal aufzugreifen. Mitte Juni kam die Nachricht, dass die Wilstorferin künftig das Immanuel-Kant-Gymnasium in Sinstorf besuchen darf. „Ich freue mich auf die neue Schule“, sagt Ravza. „Aber ich bin dennoch traurig, dass ich nicht dorthin gehen darf, wo meine Cousinen unterrichtet werden.“
Die Schulbehörde hingegen hält den Schulweg nach Wilhelmsburg weiterhin für zumutbar. Es würden in solchen Fällen nicht nur die Kilometerzahl berücksichtigt, sondern auch die Reisezeit“, sagt Behördensprecherin Claudia Pittelkow. „Von Harburg-Rathaus bis Wilhelmsburg braucht man mit der S-Bahn nur ein paar Minuten, ungeachtet der Kilometerzahl.“ Dennoch habe man als Ziel, die Erstwünsche der Eltern zu erfüllen, so Pittelkow weiter. „Allerdings muss dieses Ziel innerhalb von gesetzlichen Rahmenvorgaben erfüllt werden. Eine deutliche Rahmenvorgabe sind Klassengrößen, die grundsätzlich nicht überschritten werden.“
An den Stadtteilschulen sind 25 Schüler pro Klasse zulässig
Einen Hinweis darauf, wie eng die Kapazitäten schon jetzt sind, liefert die Senatsantwort auf eine weitere Kleine Anfrage von CDU-Schulpolitikerin Birgit Stöver. Danach werden die im Schulgesetz festgeschriebenen Höchstgrenzen für Schulklassen bei 20 Prozent überschritten – in 1194 der rund 6000 Regelklassen. In 75 Prozent der Fälle sitzt nur ein Schüler mehr in der Klasse. In 20 Prozent der Fälle sind es zwei Kinder. Nur bei jeder vierten Überschreitung der Obergrenzen ist die Aufnahme von Flüchtlingskindern im laufenden Schuljahr die Ursache. Andererseits: Laut Senatsantwort wird in 2777 Klassen die zulässige Frequenz unterschritten. Das führt dazu, dass die gesetzliche Vorgabe im Durchschnitt eingehalten wird. An Grundschulen beträgt die durchschnittliche Klassengröße 20,9 Kinder (zulässig: 23), an den Gymnasien 26,4 Schüler (28) und an den Stadtteilschulen 23,9 Schüler (25).
In den kommenden Jahren, so die aktuelle Prognose, rollt auf die Schulen der Stadt eine Schülerwelle zu. Demnach ist gegenüber 2017 mit einem Zuwachs der Schülerinnen und Schüler um 25 Prozent bis 2030 zu rechnen. Derzeit besuchen rund 195.000 Jungen und Mädchen die allgemeinbildenden Schulen. Die Stadt will nun auf die steigenden Schülerzahlen reagieren und legt mit dem Entwurf des Schulentwicklungsplanes 2019 die Grundlage und den Rahmen für künftige Baumaßnahmen.
Maßnahmen, von denen Ravza Bulut und ihre Eltern nicht mehr profitieren werden. Sie haben sich jetzt mit der neuen Schule angefreundet und hoffen, dass Ravza mit ihrem Notendurchschnitt von 3,0 den Anforderungen am Gymnasium gewachsen ist. Sie selbst möchte alles dafür tun, dass sie die Herausforderung meistert. Nach den Sommerferien wird sie gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern zur Einschulungsfeier ans Immanuel-Kant-Gymnasium fahren. Der Schulweg dauert mit dem Fahrrad nur 15 Minuten.
So funktioniert die Schulwahl
14.358 neue Fünftklässler werden nach den Sommerferien in den fünften Klassen der 191 staatlichen Stadtteilschulen und Gymnasien eingeschult. Laut Schulsenator Ties Rabe verteilen sich die Aufnahmen erstmals fast gleichmäßig auf die beiden Schulformen Gymnasium und Stadtteilschule.
In Hamburg entscheiden die Eltern darüber, welche Schulform sie für ihr Kind nach der vierten Klasse wählen. Für die jeweiligen Schulen können sie Wünsche angeben. Dazu können die Eltern im Anmeldeformular drei konkrete Wunschschulen eintragen.
Übersteigt die Zahl der Anmeldungen die Aufnahmefähigkeit einer bestimmten Schule, werden zunächst Geschwisterkinder bevorzugt aufgenommen, danach entscheidet die Schulweglänge: Wer am weitesten entfernt wohnt, wird anderen Schulen zugewiesen.
Rund 94 Prozent der Hamburger Fünftklässler werden im nun beginnenden Schuljahr an ihrer Erstwunschschule eingeschult.
Ein Grund dafür ist, dass der Schulbau in den letzten Jahren dramatisch angekurbelt worden ist. Während vor 2010 jährlich rund 155 Millionen Euro in den Schulbau investiert wurden, hat der Senat von 2011 an die Investitionen auf mehr als 360 Millionen Euro mehr als verdoppelt. Allein 900 Millionen werden in den Jahren 2019/20 investiert.