Harburg . Seit einem Jahr gibt es das Harburg-Huus für Obdachlose in Harburg. Wer dort eine Nacht verbringt, lernt, die wichtig diese Einrichtung ist
Nur wer stark betrunken und aggressiv ist, muss draußen bleiben. Alle anderen finden im Harburg-Huus Zuflucht. „Ein Mann hat mich mal bedroht, weil er nicht reindurfte. Er war verzweifelt, aber sowas geht natürlich nicht. Wir wollen hier einen sicheren Hafen für Obdachlose schaffen“, sagt Axel Feige und nimmt einen Zug von seiner Zigarette. Feige steht vorm Eingang der Obdachloseneinrichtung, die in dieser Woche ihr einjähriges Bestehen feiert. Er passt auf, während die Gäste schlafen.
Immer mehr Menschen in Fabrikbaracken neben dem Bahnhof
Diese Nacht sind es sechs Frauen und vier Männer – in getrennten Zimmern. Wenn eines der 15 Betten in den Ein- bis Viererzimmern frei ist, kann er eine weitere Person aufnehmen. Wer einen Platz braucht, drückt auf die Klingel neben der Eingangstür. Feige erklärt dann die Hausordnung und reicht anschließend Zahnbürste und Bettwäsche. „Ich liebe den Nachtdienst“, sagt der Mann mit den langen Haaren und der Pudelmütze mit einem Lächeln, das sich über seine stoppeligen Wangen spannt. „Wenn alle zur Arbeit gehen, bin ich fertig und habe den ganzen Tag vor mir.“
Am Horizont färbt sich der Nachthimmel zartblau. Sichere Orte für Obdachlose gibt es in Harburg nur wenige, sagt ein Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Immer mehr Menschen würden in Fabrikbaracken neben dem Bahnhof frieren. Wer sich mit Sozialarbeitern unterhält, kann sich von ihnen Handyfotos von Schlaflagern zeigen lassen. Vor den Eingängen des Einkaufscenters nebenan sammeln sich die Schlafsäcke. Seit Jahren nimmt die sichtbare Obdachlosigkeit in Hamburg zu. „Wenn Obdachlose in Harburg früher nach Hilfe suchten, wurden sie auf Einrichtungen wie das Pik As in der Neustadt verwiesen. Aber ohne Zugticket kommt man nicht weit“, sagt Thorben Goebel-Hansen, Einrichtungsleiter des Harburg-Huus. Die Übernachtungsstätte Pik As liegt in der Neustadt.
Ehemalige Schiffsdieselfabrik mit rostroten Ziegeln
Goebel-Hansen erzählt von Menschen, die verletzt sind oder Blut husten. Die zu krank sind, um den Weg aus Harburg anzutreten. Durch den Alten Elbtunnel oder über die Elbbrücken sind es knapp 14 Kilometer. Das DRK habe lange nach einem Ort gesucht, um das Harburg-Huus aufzubauen, sagt Goebel-Hansen. Hier im Phoenix-Viertel am Rande des Stadtparks habe man schließlich eines von Hamburgs ältesten Industriegebäuden übernommen und saniert. Über 100 Jahre alt ist das Haus, eine ehemalige Schiffsdieselfabrik mit rostroten Ziegeln. Seit der Eröffnung im Sommer 2018 wurden mehr als 3500 Übernachtungen gezählt. Die Gäste kommen aus Hamburg, anderen Gebieten Deutschlands, aus der europäischen Nachbarschaft oder dem entfernteren Ausland.
Die Tiere haben oft ähnliches Leid erfahren
Manche sind vierbeinig. „Wir sind eine der wenigen Tagesaufenthalts- und Übernachtungsstätten in Hamburg für obdachlose Menschen mit Tieren. Anderorts müssen sie sich oft von ihren Gefährten trennen“, sagt Goebel-Hansen. Und damit meist von der letzten Konstante ihres Lebens. Die Tiere haben oft ähnliches Leid erfahren, wie ihre Besitzer. Das verbindet. Goebel-Hansen will mit dem Harburg-Huus einen Ort schaffen, an dem die Menschen zur Ruhe kommen, sich die Haare waschen können und Essen bekommen. Im Winter wie im Sommer. „In der Winterzeit bekommen wir viele Spenden. Viele Leute sorgen sich, weil es kalt ist. Doch die Not obdachloser Menschen bleibt darüber hinaus bestehen.“ Auch Sommerhitze ist ein Problem. Oft sitzen obdachlose Menschen dann wie Ausstellungsstücke im Zug. Keine Höflichkeit und kein Lächeln können das ändern. Obdachlosigkeit führt zu gesellschaftlichem Ausschluss. Und sie kann ganz plötzlich kommen.
„Dann kam der Tag, an dem er auf sie einschlug“
„Ich bin im Harburg-Huus, weil ich von meinem Mann Abstand nehmen musste“, sagt Carina Föllmers (Name geändert). „Ich habe versucht, bei ihm zu bleiben, aber es ging einfach nicht mehr.“ Jeden Abend habe er Bier getrunken oder Whiskey gekippt. Dann kam der Tag, an dem er auf sie einschlug. „Ich habe nach Hilfe geschrien. Eine Freundin von ihm war dabei. Sie hat gelacht. Föllmers packte ihre Taschen mit den nötigsten Habseligkeiten. Monate später fand sie sich im Harburg-Huus wieder. Ihre Kinder hofft sie in naher Zukunft aus der Obhut holen zu können.
Denn es geht bergauf: Seit Kurzem arbeitet sie in einer Physiopraxis und hat ein WG-Zimmer in Aussicht. Sie träumt davon, wieder mit ihren Kindern zusammenzuleben. Während sie über die beiden spricht, spielt sie an ihren pinklackierten Nägeln. Ihre Augen werden feucht. „Das, was ich verdiene, reicht noch nicht, um sie nach Harburg zu holen.“ Dann fügt die 27-Jährige hinzu: „Ich habe Angst, eine schlechte Mutter zu sein.“
„Wir möchten unsere Gäste dabei unterstützen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren“, sagt Henning Eberhardt, Sozialarbeiter beim DRK. Drei Nächte dürfen sie bleiben. Wenn sie am Therapie- und Sozialangebot teilnehmen und im Betrieb helfen, können Ausnahmen gemacht werden. So wie bei Frau Föllmers.
„Einige haben Unglaubliches durchgemacht“
Eberhardt sitzt im Container, einer Schachtel aus Stahl, von der man auf den Außenmühlenweg herunterblicken kann. Er streckt einem beim zweiten Wiedersehen zum Gruß die Faust entgegen und lacht. Es ist ihm wichtig, dass die Gäste im Harburg-Huus würdevoll behandelt werden. „An manchem Morgen gibt es Bio-Milch zum Kaffee“, sagt er. „Wir kriegen tolles Essen von der Tafel.“ Einer Dame aus Frankreich habe er einmal eine hochwertige Funktionsjacke in die Hände gedrückt. „Unsere Gäste haben es wie andere Menschen verdient, gut zu essen oder sich schön zu fühlen.“
Die Menschen, die im Harburg-Huus arbeiten, spülen nicht bloß Geschirr oder prüfen die Spendenbestände. Sie hören zu. Etwa beim Nachtdienst, wenn ein Gast durch die Gänge streift, weil er nicht schlafen kann, sagt Nachtwächter Feige. „Einige haben Unglaubliches durchgemacht. In stillen Momenten bekommt man das mit.“ Wie vor einigen Monaten: Die Frau setzte sich in den halbdunklen Essenssaal und begann zu schluchzen. Ob sie reden wolle? Sie schüttelte den Kopf, Tränen tropften auf ihr T-Shirt. Feige nahm sich einen Holzstuhl und setzte sich schweigend daneben. „Ich kann nicht immer helfen, aber ich versuche, da zu sein.“
„Die Menschen sind mir ans Herz gewachsen“
Jeden Abend schreibt Feige zum Dienstschluss in ein dünnes Logbuch. Dann schließt er die Poststelle ab, das kleine „Aquarium“ aus Panzerglas im Flur, und verabschiedet sich von den Kollegen. Draußen ist es mittlerweile hell, die Vögel zwitschern. Die Bewohnerin Föllmers sitzt schon auf einer Bank und genießt die Sonne. Sie hofft auf einen reibungslosen Auszug. Von der neuen Wohnung aus wären es nur wenige Minuten Fußweg zur Einrichtung. Ob sie das Harburg-Huus besuchen würde? „Auf jeden Fall. Die Menschen sind mir ans Herz gewachsen. Und ich weiß ja, dass sie da sein werden.“