Harburg. Das Projekt LeseZeit der Bürgerstiftung Hamburg bringt 160 Vorleser in Kitas und Schulen. Die Omas haben Spaß, die Kinder lernen dazu.
Die einen nennen sie „Märchentanten“. Die anderen sagen „Vorleseomis“. Oder „meine Lesepaten“. Sie selbst nennen sich die Vorleserinnen. Oder „Lesezeit-Schenker“. Einmal in der Woche steuern Ute Schwarz und Petra Lübbersmeyer die Kita Bissingstraße im Stadtteil Heimfeld an.
Mit Bilderbüchern und Lesebrille ausgestattet, machen es sich die beiden Damen, Anfang 70, mit den Kindern bequem. Tauchen gemeinsam mit den Fünf- und Sechsjährigen ein in die Welt von „Pippi Langstrumpf“ und „Bullerbü“, begleiten „Pettersson und Findus“ durch ihren Alltag und erleben Abenteuer mit dem „Supadupa Schwein“ oder Disneys Bambi. Eine Stunde dauert die Reise durch die Bilderbücher. Wertvolle Lesezeit für beide Seiten.
Ute Schwarz und Petra Lübbersmeyer gehören seit vier Jahren zum Team der 160 ehrenamtlichen Vorleser, die im Auftrag der Bürgerstiftung Hamburg für das Projekt „LeseZeit“ in Kitas, Schulen und Spielhäusern der Stadt unterwegs sind. Allein in Harburg engagieren sich mehr als 40 Vorleser und erreichen mit ihrem Engagement fast 100 Kinder in 17 Vorlesegruppen. Jede Woche.
Kinder mit Migrationshintergrund kommen über die Kita mit der deutschen Sprache in Kontakt
Eine dieser Gruppen gehört zur Elbkinder-Kita Bissingstraße. Deren Abteilungsleiterin Nadine Willenbrock ist froh über die ehrenamtliche Unterstützung. „Wir haben viele Kinder mit Migrationshintergrund, die über die Kita erstmalig mit der deutschen Sprache in Kontakt kommen. Vorlesen ist eine gute Möglichkeit, diese Kinder an Sprache heranzuführen und ihnen Geschichten in vielfältiger Form zugänglich zu machen.“
Auch wenn in der Kita bereits viel gelesen werde, sei der Besuch der Vorleserinnen eine besondere Bereicherung. „Es ist schon ein Luxus für die Kinder, in kleinem Kreis eine Geschichte vorgelesen zu bekommen“, so Nadine Willenbrock. „Exklusivzeit“, nennt die Leiterin diese wertvollen Stunden. Weil es hier um so viel mehr geht als das Vorlesen. Um Nähe. Um Vertrauen. Um Zuwendung und Ansprache.
Für Vorleser gibt es Seminare, Workshops und Treffen
An diesem Nachmittag haben sich Raquel, Alena und Christie-Joy die begehrten Plätze auf dem Kuschelsofa geschnappt. Sie wollen die Geschichte von Bambi hören. Als Petra Lübbersmeyer die Stimme erhebt, wird es im Raum mucksmäuschenstill. „Ich liebe die Geschichte von Bambi“, flüstert Raquel. Es ist ein besonderer Moment für die Kinder und für die beiden Vorleserinnen. Denn beide nehmen aus diesen Begegnungen wertvolle Erfahrungen mit.
„Ich habe schon als Kind gern gelesen und genieße es jetzt um so mehr, wieder in Kinderbüchern zu stöbern“, sagt Ute Schwarz, die bis 2014 im Büro des Straßenmagazins „Hinz & Kunzt“ gearbeitet hat. Dann ging sie in den Ruhestand. Plötzlich hatte sie Zeit. Zeit, sich um andere zu kümmern. Als sie vom Projekt der BürgerStiftung hörte, wusste sie sofort: „Das will ich machen.“
Auch Petra Lübbersmeyer war sofort begeistert, als ihr eine Freundin von der „LeseZeit“ berichtete. „Mit dem Ehrenamt ist ein Wunschtraum von mir in Erfüllung gegangen“, sagt die 71-Jährige, die schon immer im Kindergarten arbeiten wollte. „Ich wäre zu gern Erzieherin geworden“, sagt sie. „Aber ich wurde im elterlichen Fleischereibetrieb gebraucht. Da gab es keine Widerrede.“
Seminare für Vorleser und Workshops zum Thema Fingerspiele gehören zum Projekt
Um so dankbarer sei sie für jeden Moment, den sie mit den Kindern verbringen könne und für die Erfahrungen, die sie machen darf. Denn auch das gehört zu dem Projekt: Einsteigerseminare für Vorleser, Workshops zum Thema Fingerspiele und Liederverse, das Angebot der Stiftungseigenen Bibliothek und regelmäßige Treffen mit den anderen Vorlesern.
Organisiert werden die Austauschtreffen in den Stadtteilen von den sogenannten Teamberatern. Neun sind es zurzeit in Hamburg. Für Harburg sucht die Stiftung dringend zwei neue Teamberater (siehe Infokasten).
Die Teamberater wissen, wo neue Vorleser gebraucht werden
„Die Teamberater sind mit den Vorlesern in Kontakt, sie wissen, wo neue Vorleser gebraucht werden, organisieren Hospitationen und machen den Einstieg in das Team der Vorleser leicht“, sagt Stiftungssprecherin Anja Wöllert. „Außerdem halten sie den Kontakt zur Projektleitung und beteiligen sich an der Jahresplanung, machen Vorschläge für Workshops oder Veranstaltungen. Sie können natürlich auch selbst als Vorleser in die Einrichtungen gehen.“ Denn dort werden immer wieder neue Ehrenamtliche gebraucht.
Pro Einrichtung ist ein Team im Einsatz, das aus vier Vorlesern besteht. Jedes Team übernimmt eine wöchentliche Lese-Stunde, die es selbstständig organisiert. „Der regelmäßige, verlässliche Kontakt zu den Freiwilligen ist für die Kinder von besonderer Bedeutung“, sagt Anja Wöllert. „Er vermittelt ihnen Zuverlässigkeit und Zuwendung einer erwachsenen Bezugsperson und lässt Vertrauen wachsen. Letztlich lernen die Kinder Bücher als wertvolle Helfer und Begleiter kennen.“
Kinder lernen sich zu konzentrieren
Das Projekt wird vor allem in Hamburger Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf eingesetzt. An Orten, wo viele Kinder nahezu ohne Kontakt zu Büchern aufwachsen. Hier versucht die ‚LeseZeit‘ seit 2005 mit Vorlesern eine Lücke zu schließen und Erfahrungen zu ermöglichen, die später kaum noch nachzuholen sind. „Die ‚LeseZeit‘ bietet Kindern die Möglichkeit, in die Welt der Fantasie einzutauschen und schärft dabei ihre Fähigkeit, konzentriert zuzuhören“, sagt Ingrid Ohlhaber, 76 Jahre und Teamberaterin in Wilhelmsburg. 30 Jahre hat sie als Lehrerin an der Gesamtschule Süderelbe gearbeitet. Jetzt führt sie ehrenamtlich Kinder an die Welt der Bücher heran.
Lesen wird zum Schlüssel für die Bildung.
„Die Kinder lernen auf diese Weise sich auszudrücken. Lesen ist der Schlüssel zu Bildung.“ Neben den Vorlesestunden geht sie regelmäßig mit den Kindern in die Bücherhalle, macht mit ihnen Bewegungs- und Sprachspiele oder malt und singt mit ihnen. „Wir wollen mit Wohlwollen, Geduld und Gelassenheit, mit der eigenen Freude am Lesen bei den Kindern die Leselust wecken und zugleich die Sprachfähigkeit fördern“, sagt Ingrid Ohlhaber. „Ganz nebenbei fördern wir Kreativität und Selbstbewusstsein der Kinder sowie ein gutes Miteinander. Eine Beziehung zueinander wird aufgebaut. Und beide Seiten genießen es sehr.“
Zu wenige Eltern lesen ihren Kindern vor
Vorlesestudien, die von der Stiftung Lesen seit 2007 jährlich durchgeführt werden, zeigen, dass Eltern, die ihrem Nachwuchs jeden Tag vorlesen, nachhaltig in die Bildungschancen ihrer Kinder investieren.
Das Vorlesen ist die Grundlage für eine gute Lesekompetenz – eine der zentralen Schlüsselqualifikationen unserer Zeit und Voraussetzung für alles, was während und vor allem nach der Schule kommt.
Die Studien der Stiftung Lesen zeigen jedoch auch, dass immer noch zu wenige Eltern ihren Kindern vorlesen. Fast ein Drittel der Mütter und Väter tut dies zu Hause gar nicht.
Dabei sind es neben den Kindergärten und Horten vor allem die Familien, die den Grundstein für einen erfolgreichen Lese-Werdegang schaffen.
Kognitive Fähigkeiten, emotionale und soziale Kompetenzen werden durch das Vorlesen gefördert. Der Wortschatz wird vergrößert, die Konzentrationsfähigkeit gesteigert und das Vorstellungsvermögen erweitert. Außerdem lernen Kinder durch die Geschichten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.