Wer nicht mehr klar denken kann, dessen Wert und Nutzen, aber auch seine Daseinsberechtigung werden oft in Frage gestellt

Sie haben mich im 2. Theologischen Examen geprüft“, sagt Regina Holst als erstes in unserem Gespräch. Solche Erinnerungen schaffen schnell guten Kontakt. Ich staune, was sie als Pastorin auf einer besonderen Pfarrstelle tut. „Herbstdrachen – Seelsorge im Alter“ nennt sie ihre selbstgewählte Aufgabe. Das ist ein Projekt der Harburger Kirchengemeinden St. Trinitatis-, Luther-, St. Paulus- und der St. Petrusgemeinde. Ihr Kollege, der Beauftragte der Kirche in Hamburg und Vorsitzende der Hamburger Alzheimer-Gesellschaft, Pastor Tobias Götting, hat mich auf sie aufmerksam gemacht. Sie verweist auf den Film „Honig im Kopf“ mit Dieter Hallervorden.Die 11-jährige Tilda liebt ihren Großvater über alles. Der wird zunehmend vergesslich und hilflos. Tilda will ihren Großvater retten.

Dieser Film hat das Verständnis für Demenzkranke bei ihr und bei vielen sehr gefördert. „Aber es gibt bei Menschen über 70 viel Abwehr,“ sagt sie. „Die Angst vor dem Gedächtnisverlust und vor geistigen und auch körperlichen Beeinträchtigungen ist sehr groß. Viele machen um Demenzkranke einen großen Bogen.“ Regina Holst wird grundsätzlich: „Die innere Abwehr, aber auch die Scheu von Angehörigen, mit dieser Krankheit offen umzugehen, hat einen tiefen Grund. In unserer Gesellschaft werden die kognitiven Fähigkeiten sehr hoch bewertet.

Wer nicht mehr klar denken kann, dessen Wert und Nutzen, aber auch seine Daseinsberechtigung werden in Frage gestellt.“ Ich pflichte ihr bei. Denn ich weiß nur zu gut, dass Schwäche, Angst und zum Pflegefall werden in unserer Leistungsgesellschaft nicht gewollt sind. „Mein Ziel als Theologin ist es, allen zu vermitteln, dass der Wert und die Würde von dementiell Erkrankten erhalten bleibt, auch wenn das Erinnerungs- und Orientierungsvermögen erloschen ist.“

Eine wichtige Botschaft! Denn in Hamburg gibt es gut 30.000 Demente. Das ist immerhin ein ganzer Stadtteil, sagte Tobias Götting. Und 1,7 Millionen in Deutschland.

Die Seelsorgerin Holst setzt sich den Menschen mit Demenz sehr bewusst aus. Sie kennt den Verlauf der verschiedenen dementiellen Erkrankungen. Der beginnt mit Störungen im Kurzzeitgedächtnis, zieht dann Defizite des Bewusstseins und der Gefühle nach sich. Am Ende sind alle Fertigkeiten und Fähigkeiten verschwunden. Ich habe das bei einem väterlichen Freund mit großer Betroffenheit erlebt. Er war mein bester Ratgeber am Michel. Ich schob ihn im Rollstuhl durch den Mittelweg. Der ehedem überaus kluge Mann nestelte an seiner Kleidung, nahm nichts von der Umwelt wahr und erinnerte sich überhaupt nicht an unsere gemeinsamen Zeiten.

Regina Holst leitet die „Vergiss-mein-nicht-Gottesdienste“. Wie ihr Kollege Tobias Götting erlebt sie dabei, dass der Kirchenraum die Unruhe mancher Menschen mit Demenz besänftigt. Götting erzählt von einer Frau, die ständig und störend dazwischenredete: „Gib mir mal ‘ne Zigarette.“ Nach und nach beruhigte sie sich. Beruhigend wirken auch Liedern die den Betroffenen aus ihrer Kindheit vertraut sind. „Musik ist Seelensprache“, sagt Götting. Bei ihren Lebensmelodien werden sie wach und lebendig. Es komme auch schon mal bei Besuchen am Krankenbett vor, dass das Lied „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ gewünscht wird.

Pastorin Holst führt die Alzheimerberatung für Angehörige im Gemeindehaus an der Bremer Straße durch. Die Seelsorgerin ist im Harburger Raum gut vernetzt. So ist sie auch integriert in das Team „Palliative Care“ vom DRK Harburg. Sie nimmt regelmäßig an den Sitzungen teil. Dadurch wird sie von den Mitarbeitenden im Team über Erkrankte informiert. Sie schätzt dieses Pilotprojekt sehr.

Mit 10 % ihrer Stelle ist sie als Heimseelsorgerin im Marie-Kroos-Stift in Heimfeld tätig. Dort hat sie Ehrenamtliche gewonnen, die den Menschen auf der Pflegeabteilung vorlesen und mit ihnen singen. Sie berichtet von Ehrenamtlichen, die nach ihrem „Dienst“ das Haus beschenkt und beglückt verlassen. „Es ist einfach schön für sie, eine erfüllende und sinnvolle Aufgabe auf der Schattenseite des Lebens zu haben.“

Sie hat noch ein weiteres kleines, aber feines Standbein, das Pilgern. Sie wandert mit Gleichgesinnten auf Pilgerwegen im Norden. Zum Epiphaniasfest am 6. Januar war sie auf dem Krippenweg unterwegs, zu Krippen in der St. Johannis-Kirche, in der katholischen St. Marien/St. Joseph- in der Luther- und der St.-Paulus-Kirche. Der Pilgerweg endete in St. Petrus mit einem Gottesdienst und dem Neujahrsempfang. Mich interessiert, ob auch Demenzerkrankte im Anfangsstadium mitpilgern. „Das habe ich versucht. Mein Ziel ist es immer, Menschen so viel Lebensmut und Lebensfreude zu vermitteln und ihnen Selbständigkeit im Rahmen ihrer eingeschränkten Möglichkeiten zu ermöglichen. Aber mit Demenzkranken zu pilgern, gestaltete sich als schwierig. Sie sind nicht mehr so beweglich und flexibel. Leider!“

Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Hamburger Michel. Seine Kolumne
erscheint im Zwei-Wochen-Rhythmus
im Hamburger Abendblatt.