Harburg. Bei Dunkelheit fallen die großen, schwarzen Vögel in die Kronen der Bäume ein. Rabenkrähen und Dohlen versammeln sich am Vorplatz.

Wer sich morgens oder nach Feierabend am Bahnhof Harburg aufhält, fühlt sich an Alfred Hitchcocks Krimi „Die Vögel“ erinnert: Hunderte Krähen und Dohlen versammeln sich in den großen Bäumen am Bahnhofsvorplatz oder am Übergang vom S-Bahnsteig zum P&R-Haus und machen durch ihre Rufe auf sich aufmerksam. Oft ist das Krähenpalaver so laut, dass Passanten unter den Bäumen stehen bleiben und das Schauspiel beobachten.

Im Winter bilden sich häufig große Trupps aus Rabenkrähen, Dohlen und zum Teil auch Saatkrähen, die sich an bestimmten Orten sammeln. „In der Masse sind sie vor Feinden besser geschützt. Solche Versammlungsplätze dienen auch als Info-Börsen. Möglicherweise werden dort Informationen über Futterquellen ausgetauscht – genau wissen wir das natürlich nicht“, sagt Alexander Mitschke. Der Ornithologe leitet den Arbeitskreis Vogelschutzwarte Hamburg, der die Entwicklung der städtischen Vogelwelt beobachtet.

Krähen seien weder lärm- noch lichtempfindlich, sagt Mitschke. „Aber eigentlich verhalten sie sich in ihren Schlafbäumen leise, damit sie nicht entdeckt werden.“ Das spreche dafür, dass die Harburger Krähen zu späterer Stunde heimlich zu ihren eigentlichen Schlafplätzen weiterziehen. Dagegen stehen allerdings Aufzeichnungen aus den vergangenen drei Jahren von Arbeitskreis-Mitgliedern. „Unsere Beobachter sind eher der Meinung, dass es sich am Harburger Bahnhof und am angrenzenden Bereich entlang der Harburger Poststraße wirklich um einen Schlafplatz handelt. Auch, weil die Vögel teilweise nicht nur abends, sondern auch morgens in der Dämmerung dort anwesend waren“, erläutert der Vogelkundler.

In den großen Bäumen im Bahnhofsumfeld versammeln sich abends Rabenkrähen und Dohlen.
In den großen Bäumen im Bahnhofsumfeld versammeln sich abends Rabenkrähen und Dohlen. © HA | Angelika Hillmer

Die Schätzungen zur Größe der Vogelschar pendeln zwischen 800 und 1200 Tieren. Am 4. April 2018 waren es auf einem Beobachtungsgang zum Beispiel um die 500 Rabenkrähen und 350 Dohlen. Mitschke: „Der Winter war längst vorbei. Das spricht dafür, dass weniger zugereiste Winterflüchtlinge, sondern vielmehr Brutvögel der näheren Umgebung an den Versammlungen beteiligt sind.“ Der Harburger Bahnhof ist offenbar nicht nur für reisende Menschen ein Treffpunkt.

Hamburgs Rabenkrähen profitieren vom Nahrungsreichtum der Stadtlandschaft. Während sie vor 100 Jahren nur ganz vereinzelt in der Stadt brüteten, schätzen Ornithologen anhand von gezielten Zählungen den aktuellen Bestand auf rund 7300 Brutpaare. Die Vögel besiedeln das komplette Stadtgebiet, mit den höchsten Dichten direkt in der City. Auch im Bezirk Harburg sind sie häufig. Nur in der Elbmarsch (zu wenig Bäume) sowie in den geschlossenen Waldgebieten der Harburger Berge (zu viele Bäume) sind Krähenreviere rar.

Die winterliche Krähengesellschaft am Harburger Bahnhof könnte tagsüber im Moorgürtel oder sogar auf der Stader Geest nach Futter gesucht haben und erst zum Abend in die etwas wärmere Stadt fliegen, so Mitschke: „Die Vögel orientieren sich an menschlichen Bauten, etwa an Strommasten, auf denen sie sich auch gern niederlassen. Es gibt auch im Harburger Raum feste Flugrouten – richtige Krähenstraßen.“

Alexander Mitschke vom Arbeitskreis der Staatlichen Vogelschutzwarte Hamburg beobachtet die städtische Vogelwelt.
Alexander Mitschke vom Arbeitskreis der Staatlichen Vogelschutzwarte Hamburg beobachtet die städtische Vogelwelt. © Bertold Fabricius

Unter die Rabenkrähen mischen sich Dohlen. Bis in die 1990er Jahre kamen große Schwärme aus Osteuropa, um dort dem strengen Winter zu entfliehen. „Aufgrund des Klimawandels haben sie das jetzt nicht mehr nötig“, sagt Mitschke. Jetzt bleiben die osteuropäischen Dohlen in ihren Heimatländern. Zudem könnte dort das Futterangebot, etwa durch herumliegenden Müll, etwas größer sein als im abfallwirtschaftlich gut organisierten Deutschland.

Auch die Dohlen sind zu Stadtvögeln geworden, fehlen aber in der Hamburger City. Im Bezirk Harburg ist von einstmals vier Brutgebieten nur noch Neuenfelde übrig geblieben. Hamburgs Dohlen brüten nicht mehr auf Bäumen, sondern fast ausschließlich an Gebäuden, bevorzugt in Schornsteinen. Wenn diese verschlossen werden, entfällt eine (potenzielle) Brutstätte. Buxtehude ist eine Dohlen-Hochburg, und auch in Hamburg-Wilhelmsburg sind die grauschwarzen Rabenvögel gut vertreten. Wie die Krähen suchen sie ihr Futter gern auf kurzgeschorenen Rasenflächen, aber auch in der Agrarlandschaft.

Im Frühjahr lösen sich die Sammelplätze wieder auf, und die Rabenvögel lassen den Bahnhof links liegen. „In der Brutzeit schlafen die Krähen in der Nähe ihrer Nester“, sagt Marco Sommerfeld vom Naturschutzbund in Hamburg.

Schlaue Vögel

Krähen können sich Gesichter merken, sind erfinderisch und nutzen Werkzeuge. Sie wurden schon dabei beobachtet, wie sie Nüsse auf die Fahrbahn werfen, um sie von Autoreifen knacken zu lassen. Dabei bevorzugen sie Kreuzungen mit Ampeln, um die Nussstückchen in der Rotphase bequem aufpicken zu können. Sofern vorhanden, kooperieren Krähen mit Wölfen. Sie weisen ihnen den Weg zu herumliegendem Aas; im Gegenzug bieten die Wölfe ihnen Sicherheit. Krähen sind soziale Tiere und können auch nachtragend sein.

Dohlen haben ein so hoch entwickeltes Familien- und Gesellschaftsleben, wie es in der Tierwelt selten zu finden ist. Das hat bereits der Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903 – 1989) festgestellt. Er fand heraus, dass Dohlen über ihre angeborenen Instinkte hinaus Feindbilder erlernen können. Mit einem „Schnarrgeräusch“ geben sie diese Erfahrungen an andere Dohlen weiter.