Seit zehn Jahren in Deutschland – Ehepaar soll zurück nach Afghanistan. Kollegen in der McDonalds-Filiale Sinstorf sind fassungslos.

Das neue Jahr begann für Reza und Fatemeh Sadeghi mit einem Schock. Am 5. Januar erhielt das afghanische Paar Post des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Aufgrund einer Anfrage der zuständigen Hamburger Ausländerbehörde sei ein Widerrufsverfahren hinsichtlich ihres Abschiebeverbots eingeleitet worden, hieß es in dem Schreiben aus Nürnberg. Was nichts anderes bedeutet, als dass dem Paar die Aberkennung ihres Aufenthaltsrechts droht.

„Wir konnten nicht glauben, was wir da lesen mussten. Bis heute hatten wir beide keine ruhige Nacht mehr, finden keinen Schlaf. Wir haben kaum Appetit, sind fahrig und nervös“, beschreibt der 34 Jahre alte Reza die Symptome permanenter innerer Unruhe. „Für uns ist einfach undenkbar Deutschland ohne unseren Sohn Behzad zu verlassen“, sagt die 31 Jahre alte Fatemeh und kann die Tränen nur mühsam zurückhalten.

2009, also vor zehn Jahren, war das Paar mit dem dreijährigen Behzad aus dem afghanischen Herat geflüchtet. Vier Monate dauerte ihre Odyssee durch Iran, Irak, die Türkei, Griechenland und dann über die Balkanroute nach Deutschland. Wo zu diesem Zeitpunkt bereits viele Familienangehörige Zuflucht gesucht hatten.

Über die Stationen Berlin, Eisenhüttenstadt, Bad Belzig gelangten sie irgendwann nach Hamburg. Dort wollten sie endlich zur Ruhe kommen, sich ein neues Leben aufbauen. Doch 2012 erkrankte Behzad an Krebs. Es folgten Monate zwischen Hoffen und Bangen. Im März 2013 starb der Junge nach mehreren Operationen. Er wurde nur sieben Jahre alt.

Seitdem besuchen Reza und Fatemeh das Grab ihres toten Kindes auf dem Billstedter Friedhof an jedem Freitag. Egal, ob es regnet oder eisiger Wind ihnen den Atem nimmt. „Für uns steht dann die Zeit für einige Momente still. Im Gebet wollen wir ihm einfach nur nah sein“, sagt Fatemeh Sadeghi.

Doch weil all die Strapazen auf der fast 6500 Kilometer langen Flucht von Herat nach Hamburg nicht vergebens gewesen sein sollen, investierten die Sadeghis alle Energie in ihren Neuanfang. Der gelingt. Ende 2013 bekamen beide eine Festanstellung in der McDonalds-Filiale Sinstorf/Fleestedt. 2014 machte Reza seinen Pkw-Führerschein. Im September 2016 bezog das Paar eine eigene Wohnung in Hamburg-Horn, die es im Sommer 2018 umfassend renoviert hat. Und seit 2016 haben die Sadeghis auch ein Auto, einen neun Jahre alten VW Polo. Alles ist anscheinend auf einem guten Weg. Bis zum 5. Januar und dem BAMF-Brief.

Als McDonalds-Geschäftsführerin Frauke Petersen-Hanson in einer Mitarbeiter-Versammlung am vergangenen Sonntag von dem Schreiben berichtete, sind die Kollegen bestürzt. „Für einen Augenblick herrschte Stille“, sagt Filialleiter Dennis Buchholz. Dann habe sich die Fassungslosigkeit mit Wut gemischt. Die Sadeghis seien nicht nur anerkannt und respektiert, sondern sogar überaus beliebt: „Fatemeh ist die gute Seele der Frühschicht und Reza immer hilfsbereit. Warum ausgerechnet diese beiden?“

Diese Frage treibt auch Frauke Petersen-Hanson um. Die Sadeghis seien nachgerade ein Protobeispiel für gelungene Integration: „Eigene Wohnung, sicherer Job in einer Branche, die dringend Arbeitskräfte sucht, privat und beruflich bestens eingebunden – und völlig unabhängig von staatlichen Transferleistungen. Mehr kann man doch kaum verlangen.“

Eine Abschiebung der Sadeghis wäre für sie und das gesamte Team der Filiale unvorstellbar. Dort seien 34 Mitarbeiter aus acht Nationen beschäftigt, die Toleranz und friedliches Miteinander tagtäglich leben würden. McDonalds verstehe sich als Arbeitgeber, der für viele Migranten eine solide Einstiegschance in den deutschen Arbeitsmarkt biete.

Laut aktuellen Zahlen des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (DEHOGA) gab es im Dezember 2018 allein in der Gastronomie 22.633 offene Stellen, 1,3 Prozent mehr als 2017. In der Hotelerie waren es 12.739 Stellen, ein Plus von 9,5 Prozent. „Der tatsächliche Bedarf dürfte aber weit höher sein“, so Sandra Warden, Geschäftsführerin im DEHOGA-Bundesverband. Viele Betriebe würde teilweise sehr kreative Wege gehen, um geeignete Mitarbeiter zu finden. Die Einbindung von Geflüchteten sei längst „ein wichtiger Baustein“ um die notwendigen Personalressourcen zu sichern.

Das alles zählt im Fall Sadeghi offenbar nicht. „Der Eintritt einer extremen Gefahrenlage bei einer Rückkehr nach Afghanistan liegt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht mehr vor“, heißt es in dem BAMF-Schreiben, das dem Abendblatt vorliegt. Als „gesundem Ehepaar“ im leistungs- und arbeitsfähigen Alter seien sie durchaus in der Lage, „sich ein Einkommen am Rande des Existenzminimums zu sichern“. Das gelte uneingeschränkt auch ohne familiären Rückhalt in Afghanistan.

Keine extreme Gefahrenlage? Die Fakten besagen etwas anderes. Laut der Uno-Mission für Afghanistan (Unama) wurden im ersten Halbjahr 2018 mindestens 1692 Zivilisten getötet. 2017 gab es allein bei Anschlägen 2300 zivile Opfer, ein Anstieg um 17 Prozent und mehr als in jedem anderen Jahr des Konflikts seit Beginn der UNO-Aufzeichnungen 2009. Bei Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Kräften kamen weitere 3484 Zivilisten ums Leben.

Die Zahlen der Vereinten Nationen gelten als eher konservativ, weil die Uno nur Todesfälle in ihre offiziellen Statistiken einbezieht, für die es mindestens drei voneinander unabhängige Quellen gibt. Anderen Organisationen zufolge starben jetzt schon das vierte Jahr hintereinander mehr als 10.000 Zivilisten. „Die Zahlen allein können aber das entsetzliche menschliche Leid nicht beschreiben, das den einfachen Menschen zugefügt wird, insbesondere Frauen und Kindern“, erklärte der Uno-Gesandte für Afghanistan, der Japaner Tadamichi Yamamoto.

Herat, die Heimatstadt der Sadeghis, war zuletzt im August 2017 in den Schlagzeilen. Bei einem Anschlag auf eine schiitische Moschee kamen mindestens 29 Menschen ums Leben, weitere 63 wurden zum Teil schwer verletzt. „Wir wissen aus Gesprächen mit Freunden in Herat, dass unser Haus komplett zerstört ist. Eines steht fest: Zukunftsperspektiven in Afghanistan gibt es für uns nicht. Uns dorthin zurückzuschicken wäre einfach nur unmenschlich“, sagt Reza Sadeghi.