Harburg. Der Andrang in den Kirchen wird heute größer sein. Pastorin Sabine Kaiser-Reis predigt in Heimfeld: Heiligabend – eine Herausforderung.
Heute wird es sein wie es immer ist, alle Jahre wieder: Vor der Bescherung steht für viele der Besuch des Gottesdienstes. Für Sabine Kaiser-Reis (55), Pastorin der evangelischen Gemeinde St. Trinitatis an der Bremer Straße, ist das mehr als eine Familientradition – es gehört zu ihrer Arbeit. Dabei hätte sie heute erstmals freimachen können. Denn die Gottesdienste in der St. Johanniskirche, ihrer Trinitatis-Gemeinde, werden von ihren Kollegen, Pastor Friedrich Degenhardt und Pastorin Regina Holst sowie Carolyn Decke, der Harburger Pröpstin, gestaltet.
„Aber ohne Heiligabend-Gottesdienst geht es bei mir nicht“, sagt Sabine Kaiser-Reis. So kommt es, dass sie heute um 17 Uhr in der St.-Paulus-Gemeinde in Heimfeld predigt – auch um ihre Kollegin, Pastorin Anne Arnholz, zu entlasten. Dass ihr dann sicher auch Menschen zuhören, die sonst nie einen Fuß in die Kirche setzen, stört sie nicht: „Wir freuen uns über jeden, der zu uns kommt.“
Sind solche Event-Kirchgänger nicht scheinheilig? Aber nein, sagt Pastorin Kaiser-Reis und erzählt von einem 30-Jährigen, der jetzt wieder in die Kirche eingetreten ist, der er vor 13 Jahren den Rücken zugekehrt hatte. „Bei den vielen Hochzeiten und Taufen, die er in der letzten Zeit besuchte, hat er gemerkt, dass die Kirche ihm doch etwas gibt.“
Wenn es anderen auch so ergehe, und sei es nur an Heiligabend, dann sei viel gewonnen. „Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“: Der Geist der Weihnacht schließt alle ein.
Dass Sabine Kaiser-Reis heute in St. Paulus predigt, kommt nicht von ungefähr. Die Gemeinden St. Trinitatis, St. Paulus und die Luthergemeinde arbeiten ohnehin schon lange zusammen, was damit zusammenhängt, dass sich Kirche allenthalben im Schrumpfmodus befindet. Der Propstei Harburg mit ihren 17 Gemeinden gehörten vor gut zehn Jahren noch 80.000 Menschen an. Inzwischen sind es weniger als 20.000.
Schon 2006 verschmolzen deshalb die Dreifaltigkeitskirche, in der Sabine Kaiser-Reis seit 1994 als Pastorin arbeitete, und die St. Johanniskirche zur Trinitatis-Gemeinde. Der nächste Schritt, die Fusion des Trios, gilt als abgemacht – der entsprechende Vertrag soll am 1. Januar 2020 in Kraft treten.
Sabine Kaiser-Reis ist seit 24 Jahren Pastorin. Predigten an Heiligabend sind trotzdem noch immer etwas Besonderes für sie: „Ein Gegenprogramm zu dem ganzen Trubel, der rund um das Fest herrscht.“ Die Predigt heute Abend ist für sie auch deshalb eine Herausforderung, weil es um eine Variable des immergleichen geht – die Weihnachtsgeschichte: „Dazu ist alles gesagt.“
Andrerseits kann es wohl gar nicht oft genug gesagt werden: wie wichtig es ist, innezuhalten. Sich bewusst zu machen, worauf es abseits von Geschenken und Festessen wirklich ankommt. Anders als bei den üblichen Sonntagspredigten („Die mache ich in der Woche vorher“), überlegt Sabine Kaiser-Reis schon seit acht Wochen, was sie den Kirchgängern heute Abend mit auf den Weg geben will. „Es geht um die Sehnsucht nach Erfüllung“, sagt sie.
„In meiner Vorstellung blitzt Erfüllung immer nur in besonderen Momenten auf. Und für die muss man empfänglich sein.“ Momente des Innenhaltens, wie sie sich in einer festlich geschmückten Kirche einstellen. Wie sie vielleicht aufblitzen, wenn die bekannten Lieder gesungen werden und das Krippenspiel einsetzt: Fürchtet euch nicht!
Pastorin Kaiser-Reis wird heute vor vollem Haus predigen: „Es werden rund 400 Besucher kommen.“ Probleme wie in der evangelischen Kirche im Essener Stadtteil Haarzopf muss sie aber nicht befürchten. Dort war es im vergangenen Jahr aufgrund des großen Andrangs zum Weihnachtsfest zu so haarsträubenden Szenen gekommen, dass in diesem Jahr Eintrittskarten, kostenlose, vergeben worden sind – ohne Ticket kein Zutritt.
Trotzdem, kurz vor dem Gottesdienst stellt sich auch bei der Pastorin ein bisschen Aufregung ein. Die gehört für die allermeisten ja zum Fest wie das Amen zum Gebet. Schließlich kommen Menschen, die sich länger oder lange nicht gesehen haben, wieder zusammen.
Sabine Kaiser-Reis ist froh, dass ihre ganze Familie im Gottesdienst sitzen wird: Ihr Mann Michael Reis (58), Tochter Katharina (22, angereist aus Kiel), ihr Sohn Moritz (19) und ihre 81 Jahre alte Mutter, die sich von Krempe (Schleswig-Holstein) aus auf den Weg nach Harburg gemacht hat. Der Moment, auf den sich die Pastorin ganz besonders freut, ist, wenn im Gottesdienst das letzte Lied angestimmt wird: „Sobald ,O du Fröhliche’ kommt, fällt alle Anspannung von mir ab.“
O Tannenbaum
Der Weihnachtsbaum gehört zu den beliebtesten Bräuchen – eine Tanne, mehr oder weniger reichlichdekoriert, unter die dann die Geschenke gelegt werden. Mancher setzt dabei auf künstliche Bäume, die Mehrheit der Deutschen schwört aber auf Nordmanntanne, Blaufichte oder Edeltanne. Am längsten halten jene, die mit Wurzelballen gekauft und eingetopft werden.
Immergrüne Pflanzen galten schon in der Antike als Symbol für Gesundheit, deshalb holte man sie ins Haus. 1611 schmückte Herzogin Dorothea Sibylle von Schlesien den ersten Weihnachtsbaum mit Kerzen, sie fand das wohl schön.
Der Christ- beziehungsweise Weihnachtsbaum wurde dann in der Oberschicht gebräuchlicher, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehren sich Berichte. Johann Wolfgang von Goethe erwähnte einen Weihnachtsbaum in „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774). Die evangelische Kirche nahm den Brauch im 19. Jahrhundert auf, die katholische folgte später.