Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Michel. Alle zwei Wochen schreibt er im Abendblatt seine Gedanken auf.
November – der dunkle Monat. Auch wenn wir in uns noch die Sommertage mit ihrer Wärme und Sonne spüren. Aber der heißeste Sommer seit 1881 liegt hinter uns. Vor uns die Tage der Besinnung und des Gedenkens. Der Volkstrauertag, der christliche Buß- und Bettag, dann der Toten- und Ewigkeitssonntag.
Jedes Jahr Gedenken der Opfer von Gewalt und Terror am Volkstrauertag in Vahrendorf. Auf dem Ehrenfriedhof liegen 46 deutsche Soldaten und viele andere namenlose: 16, 18, 20 Jahre alt. „Kanonenfutter“ sagte ein Einwohner. 50 englische Soldaten starben dort. Aussichtslose und unsinnige Kämpfe nur 14 Tage vor dem Waffenstillstand in Hamburg. Ich werde dort eine Ansprache halten, ebenso wie am Ehrenmal des Neuen Friedhofs Harburg. Dort ruhen 239 Soldaten des Ersten Weltkrieges. Aus dem Zweiten Weltkrieg sind dort 241 Gräber von Soldaten und von 1707 Bombenopfern. Aber auch 476 Gräber von Opfern der Nazi-Gewaltherrschaft.
Von dem Schriftsteller Erich Kästner, der sich bereits 1933 gegen die verbrecherische Politik der Nazis gewehrt hat, stammt der Satz: „Die Vergangenheit muss reden, wir müssen zuhören. Vorher werden wir und die Toten keine Ruhe haben.“ Die Grabsteine und die Kreuze reden auch. Sie haben keine Stimme, aber eine eindringliche Botschaft: Ohne ehrliche Erinnerung gibt es keinen Mut zu einer Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit. Wer diese Toten vergisst, raubt ihnen zum zweiten Mal ihre Würde.
Die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig wollen den jüdischen Toten ihren Namen und ihre Würde zurückgeben. Gerade hat er den 70.000 Gedenkstein an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Frankfurt verlegt. So wie vorher in 1.200 Orten Deutschlands und in 24 anderen Ländern. Immer auf dem Bürgersteig vor den Häusern, in denen Juden gewohnt haben und von denen sie abgeholt und ins KZ gebracht wurden.
Er will weitermachen mit diesen Steinen gegen das Vergessen. Immer mit Zustimmung der Kommunen nimmt er einen Pflasterstein heraus und setzt einen Betonwürfel mit 10 cm Kantenlänge ein. Auf der Oberseite ist eine goldene Messingplatte zu sehen. Beim 70.000sten Stein ist zu lesen: Willy Zimmerer. Das Geburtsdatum und „Heilanstalt Hadamar 18.12.1944“. „Die Nazis haben das Vergessen mit den Behinderten begonnen“, sagt Gunter Demnig.
Die Initiative für diesen Stein ging von zwei Amerikanern aus. Ihre Großmutter war eine Cousine von Willy Zimmerer. Ihr Enkel Michael Hayse sagt auf Deutsch: „Die Verlegung bedeutet mir sehr viel. Willy gerät nicht in Vergessenheit.“ Eine Kollegin von mir hält eine kurze Ansprache: „Der Mensch ist zu Gottes Ebenbild geschaffen, das gilt auch für Willy Zimmerer und alle Opfer der Shoa.“ 18 Rosen liegen neben dem Gedenkstein.
Aus Erfahrung weiß ich, dass Trauer keine Fristen und Grenzen kennt. Besonders die Gräueltaten und Verbrechen an nahen Angehörigen können nicht „bewältigt“ werden. Trauern ist wie Erinnerung ein langer Prozess. Einen Schlussstein kann keiner setzen. Die ersten „Stolpersteine“ verlegte Demnig im Jahre 1966 in Berlin-Kreuzberg. Im Jahr legt er mit seinem Auto 60.000 Kilometer zurück. Jeden Monat soll er auf Bitten von Angehörigen der Ermordeten 450 Stolpersteine verlegen. Er bestreitet davon seinen Lebensunterhalt. 120 EURO pro Stein müssen reichen.
Die Aktion Stolpersteine ist umstritten, auch in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, lobt die Aktion. Seine Vorgängerin, die jetzige Präsidentin der Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, KZ-Überlebende, ist strikt dagegen: „Ich werde nicht zulassen, dass Namen von Menschen, die ermordet wurden und die ich vielleicht sogar gekannt habe, wieder mit Füßen getreten, bespuckt oder beschmutzt werden!“ Auch diese Ansicht verdient Respekt.
In München ist die Verlegung von Stolpersteinen wie auch in einigen anderen Städten nicht gestattet. Gunter Demnig will weitermachen, notfalls im Rollator. Die Stolpersteine sind sein Lebenswerk. Übrigens hat ihn ein Schüler auf den Namen „Stolperstein“ gebracht. Als der einen sah, habe er gesagt: „Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.“
Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Hamburger Michel.