Harburg. Vor wenigen Wochen eröffnete das Hotelschiff „Kanal 77“ – Angelika Hillmer verbrachte dort für das Abendblatt eine Probenacht.
Wohnen auf dem Wasser – davon mögen manche Hamburger träumen. Heike und Marcel Klovert haben sich diesen Traum im Harburger Binnenhafen erfüllt und lassen Gäste daran teilhaben, zumindest tageweise: Seit wenigen Wochen vermieten sie vier Doppel- und ein Familienzimmer auf dem ehemaligen Binnenfrachter „Lydios“, den hauptsächlich Marcel Klovert sowie bezahlte und unbezahlte Helfer in zweijähriger harter Arbeit zu einem Hotelschiff umgebaut haben. Wer beim „Kanal 77 – Schlafen im Hafen“, so der Projektname, eincheckt, übernachtet komfortabel in maritimer Atmosphäre.
Der Weg aufs Schiff führt über einen Steg zu einem Decksaufbau mit Eingangstür. Über eine Treppe steigen die Hotelgäste zum Frühstücks- und Aufenthaltsraum hinab, in dem der Rezeptionsdesk steht. Der ruht auf drei alten, herausgeputzen Ölfässern. Marcel Klovert (50) begrüßt seine Gäste, als seien es langjährige Freunde. Dem gebürtigen Niederländer ist die Freude anzumerken, dass sein Herzensprojekt, das ihn und seine Frau zwei Jahre lang in Atem gehalten hat, nun vollendet ist. Zumindest weitgehend. Einige Leuchter fehlen noch, auch die Dachlukenfenster und das Bullauge in den Zimmern sind noch nicht abzudunkeln. Doch das ist in den Wintermonaten zu verschmerzen.
Der Blick durch das runde Fenster im geräumigen Doppelzimmer mit WLAN-Versorgung fällt auf ein weit größeres Wohnschiff: Auf der anderen Kanalseite liegt die „Transit“, auf der rund 200 Flüchtlinge und Obdachlose untergebracht sind. Ende 2019 wird sie den Binnenhafen verlassen. Die „Lydios“ wird bleiben. „Wir gehören zum Museumshafen und der hat einen zehnjährigen Pachtvertrag“, sagt Klovert. Er ist optimistisch, dass es für sein 1914 gebautes Schiff und die anderen maritimen Oldtimer danach weitergehen wird. Schließlich gehören sie zu den Projekten, die den Flair des Binnenhafens ausmachen.
Die Doppelzimmer kosten 100 Euro pro Nacht. Am Abend, beim Blick durch das Bullauge, verströmen die verschiedenfarbig leuchtenden Fenster der „Transit“ eine heimelige Atmosphäre. Vor dem Einschlafen im warmen Bett geht mir durch den Kopf, dass genau an diesem Ort über Jahrzehnte Sand, Kies, Kohle oder Viehfutter lagen, die die „Lydios“ über Nordeuropas Flüsse und Kanäle transportierte. Bis zu 620 Tonnen auf einer Fahrt. Auf den ersten Blick ist das nicht einmal zu erahnen. Nur die schräge Zimmerdecke in Form der Ladeluken und der robuste Fußboden aus Eisenholz erinnern an die Frachtschiffzeiten. Die Bullaugen auf der Kanalseite wurden dagegen erst für die Hotelgäste in die Außenhaut hineingeschnitten.
Ohne die Aussicht aufs Wasser des Lotsekanals lässt sich leicht vergessen, dass man auf einem Schiff übernachtet. Die 55 Meter lange „Lydios“ ist fest am Lotsekai vertäut, weder Wind noch Wellen bringen sie aus der Ruhe. An ihrem Liegeplatz im Binnenhafen ist sie vom Gezeitenwechsel der Elbe abgekoppelt, und nur wenige Schiffe verkehren auf dem Kanal. „Niemand muss sich vor Seekrankheit fürchten“, so Klovert.
Viele kleine Details erinnern daran, dass dieses Hotel anders ist. Da ist zunächst die Bitte des Hoteliers, nicht übermäßig lange zu duschen – „das Abwasser fangen wir in einem Tank auf, es muss abgepumpt werden.“ Im Zimmer steht als Deko-Element (nicht etwa für die Notdurft) eine Pütz, ein Eimer mit Henkel und Leine, mit dem auf Booten und Schiffen außenbords Wasser an Deck geholt wird. Der Kleiderschrank ist ein aufgearbeiteter Metallspind, der vermutlich zuvor jahrelang von Arbeitern genutzt wurde.
Im Frühstücksraum stehen Kaffeeautomat und Saft auf einer Werkbank, und die weitgehend unverrückbaren Tische sind massive Eisenkonstruktionen mit Holzeinlagen. Das Frühstück bietet Marcel Klovert für sechs Euro pro Person an. Auch hier gibt es kleine Spezialitäten, etwa Brombeermarmelade von per Beiboot geernteten Früchten aus dem Binnenhafen oder eine Konfitüre aus Äpfeln von einer unbewirtschafteten Obstwiese in Wilhelmsburg.
An einem mit Chesterfield-Ledersofas umgebenen Tisch sitzt Tom Klovert und löffelt sein Müsli. Der Fünfjährige wird auf dem Schiff groß, lebt mit seinen Eltern in einer gut 40 Quadratmeter kleinen Wohnung im Heckbereich der „Lydios“. Vater Marcel fährt ihn zwischendurch zum Kindergarten, Mutter Heike geht ihrer Arbeit als Journalistin nach, in der Online-Redaktion des „Spiegel“-Magazins.
Als die letzten Gäste ausgecheckt haben, treibt Marcel Klovert sein Hotelprojekt weiter voran. Bei der feuchtkalten Witterung hat sich die hölzerne Eingangstür verzogen und schließt nicht mehr problemlos, sie muss gerichtet werden. Zudem sieht sich der gelernte IT-Fachmann nach einem passenden Buchungssystem um. Klovert: „Bisher notiere ich jede Reservierung in einem Buch, aber wenn jetzt allmählich mehr Gäste kommen, geht’s nur noch digital.“ Auch eine eigene Website im Internet fehlt dem Hotel noch.
Die Umbauzeit war zunächst auf ein Jahr kalkuliert, doch es wurden zwei. Und statt der eingeplanten 250.000 Euro flossen rund 340.000 Euro in die „Lydios“. Selbst jetzt, da der Hotelbetrieb läuft, bleibt für Marcel Klovert noch einiges zu tun, bis sein Projekt an allen Stellen richtig rund läuft. Aber die Hauptsache ist geschafft: Wo einst Kies und Kohle lagen, schlafen heute Übernachtungsgäste.
Informationen, Fotos und Videos zum Hotelschiff im Binnenhafen gibt es bei Facebook und Twitter unter „Schlafen im Hafen“ Lotsekanal
Der Lotsekanal ist die Hauptader des Binnenhafens. Der knapp 500 Meter lange Wasserweg verbindet den Ziegelwiesenkanal im Westen mit dem Verkehrshafen im Osten. Der Kanalplatz, das Herzstück des Binnenhafens, liegt am Lotsekanal. Schon um 1700 herum tauchte für den Platz der Name „Am Canale“ auf.
Der Name hat mit dem (Hafen-)Lotsen nichts zu tun. Vielmehr war Lotse eine alte Bezeichnung für den südlichen Burggraben der ehemaligen Harburger Zitadelle auf der heutigen Schlossinsel. Der Begriff bezieht sich auf einen sogenannten Lösegraben: Mit Hilfe solcher Gräben wurde das Wasser aus einem Moor „gelöst“ (gesammelt).