Bei der großen Revision alle fünf Jahre wird jedes Teil der Anlage genau unter die Lupe genommen. Fachkräfte aus ganz Europa rücken an
Lautlos schwebt die halbrunde Bühne am Himmel über der Holborn Europa Raffinerie in Moorburg. Arbeiter stehen hinter rotweißem Absperrband und beobachten die Szenerie aus sicherer Entfernung. Von unten wirkt das tonnenschwere Metallteil hoch über ihren Köpfen wie die winzige Miniatur aus einem Modellbaukasten.
An armdicken Stahltrossen eines gigantischen 1600-Tonnen-Krans senkt sich die Bühne mit dem bunten Geländer langsam punktgenau ins Ziel: Ganz oben ist ihr Platz. In schwindelerregender Höhe von 50 Metern, an der stählernen Kuppel des neuen Reaktorkopfes der Harburger Raffinerie. Dort wird sie später befestigt werden.
Projektleiter Jochen Weiß von der Firma Streicher lächelt zufrieden. „Des hat doch sehr guat geklappt“, sagt der Mann mit dem bayerischen Akzent. Aus seiner Brusttasche ragt ein Funkgerät. Durch seine Sonnenbrille blinzelt er nach oben: Allein der neue Reaktorkopf wiegt 30 Tonnen. Er schützt mit der 50 Tonnen schweren Regeneratorkuppel das Herzstück der Anlage. Beide Teile wurden ebenfalls mit dem Kran gehievt.
Der Ingenieur ist einer von rund 2000 Fachleuten und Spezialisten aus ganz Europa, die zurzeit überall auf dem ausgedehnten Werksgelände an der Süderelbe herumwuseln und Hand anlegen. Seit Wochen geht das so, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Mitte August begann bei Holborn der Stillstand. Oder Turnaround, wie der auf zwei Monate angelegte Prozess im internationalen Fachjargon heißt. Alle fünf Jahre wird die Raffinerie komplett heruntergefahren und zerlegt, um aufwendige Reinigungs- und Wartungsarbeiten zu erledigen und die Betriebssicherhe1it für die nächsten Jahre zu gewährleisten.
Üble Gerüche über der Elbe sorgen für Aufregung
„Beim Turnaround wird alles gereinigt. Wir drehen jedes Teil um“, erklärt Frank Heyder (64), der Geschäftsführer der Raffinerie. Er arbeitet seit 29 Jahren bei Holborn, weiß über jedes Rohr und jeden Winkel der gigantischen Anlage bestens bescheid. Die meisten Mitarbeiter der Raffinerie kennt er persönlich. Er grüßt sie auf dem Werksrundgang. Und tauscht mit dem ein oder anderen ein paar Worte.
„Geschlossene Systeme werden geöffnet, Kohlenwasserstoffe werden abgespült. Gerüche werden entfernt. Was defekt ist, wird entweder repariert oder erneuert“, erklärt der Verfahrensingenieur, als er sich den Weg durch das Gewirr von hunderten Kilometern verbautem Stahlrohr und endlose Leitungen ins Zentrum der Anlage bahnt. Ein Hauch von Benzin liegt in der Luft. Das kommt schon mal vor. Wir sind schließlich in einer Raffinerie und nicht im Freizeitpark. „Die Grenzwerte für Luftreinhaltung werden von unseren Inspektoren auf dem Gelände während des Betriebes ständig überprüft und eingehalten“, versichert der Chef.
So war es auch, als Anwohner in Jork, Buxtehude, Stade und Pinneberg vor wenigen Wochen plötzlich üble Gerüche wahrgenommen hatten. Sofort geriet Holborn als angeblicher Verursacher der Stinkwolke ins Visier der Hamburger Feuerwehr und der Umweltbehörde. Damit war der Geist aus der Flasche: In sozialen Netzwerken war von einem „Störfall“ bei Holborn die Rede – Neunmalkluge überboten sich in ihren wildesten Fantasien, wonach es angeblich nach faulen Eiern, verdorbenem Fisch oder toter Katze gerochen haben soll.
Heyder hält nichts von solchen Fakenews. „Es gab bei uns keinen Störfall“, stellt der Fachmann klar. „Alle Systeme haben richtig funktioniert. Wir suchen noch nach einer Erklärung. Wir haben nichts Auffälliges gemessen.“ Auch die Umweltbehörde hat inzwischen erkannt, dass bei Holborn alle Systeme einwandfrei funktioniert haben und die Wolke sehr wahrscheinlich aus einer bisher unbekannten, anderen Quelle stammte.
Der Turnaround in der Raffinerie ist gesetzlich vorgeschrieben. Er ist vergleichbar mit der Hauptuntersuchung eines Autos, das alle zwei oder drei Jahre zum TÜV muss. „Bestimmte Geräte wie Druckbehälter, Dampfkessel und die Tankeinheit werden auf Herz und Nieren überprüft“, erklärt der Fachmann. 20 bis 30 TÜV-Sachverständige sind in diesen Tagen zusätzlich bei Holborn unterwegs. Neben den hauseigenen Inspektoren, die immer da sind. Denn auch während des Betriebs werden über das Jahr verteilt immer wieder Messungen und Überprüfungen an der Anlage vorgenommen – etwa auf dem Tankfeld.
Holborn ist die einzige Raffinerie, die in Hamburg Rohöl zu Kraftstoff verarbeitet. Fünf Millionen Tonnen sind es jedes Jahr. Wer in Hamburg tankt, kann sich ziemlich sicher sein, dass der Sprit, der aus der Zapfpistole in den Tank strömt, bei Holborn in Harburg produziert wurde. Und mit unterschiedlichen Additiven veredelt worden ist.
Tanklaster rollen Tag und Nacht an der Füllstation vor
Damit die Metropolregion jederzeit genug Sprit bekommt, ist es wichtig, dass die Tanks bei Holborn immer gut gefüllt sind. Auch jetzt rollen die Tanklaster wie gewohnt Tag und Nacht an der Füllstation vor, um die Versorgung Hamburgs und des Umlandes zu sichern. Obwohl die Anlage seit Wochen still steht. „Die Vorbereitungen für den Stillstand haben schon Monate zuvor begonnen“, erklärt Unternehmenssprecherin Sabine Honigmann. Allein das Herunterfahren und Wiederanfahren der komplexen Anlage dauere jeweils eine Woche.
Im Normalbetrieb reichen bei Holborn 25 Leute pro Schicht aus. Ausgerechnet während des Stillstandes steigt ihre Anzahl um ein Vielfaches an. „Es sind Mitarbeiter von Kranfirmen, Gerüstbauer, Elektriker, Schweißer, das ganze Programm. Viele kommen aus Osteuropa“, nennt Heyder Beispiele. Die Arbeiter wohnen in einfachen Unterkünften und Pensionen in der Nähe – etwa im Alten Land. Frühmorgens bringen Shuttlebusse viele von ihnen an den Arbeitsplatz. Für Autofahrer wurden auf dem Werksgelände extra drei Parkplätze eingerichtet.
Die Kantine reicht für so einen gewaltigen Ansturm natürlich nicht aus. Die Verpflegung übernimmt deshalb ein Gaststättenbetrieb vom Hamburger Dom, der vorübergehend bei Holborn seine Zelte aufgeschlagen hat. Das Lieblingsessen der Arbeiter ist Currywurst mit Pommes. „Ohne Mampf kein Kampf“, sagt Heyder.
30 Kräne drehen sich derzeit auf dem Gelände. Der Blickfang ist der rote Auslegerkran, der alles überragt. Bis zu 60 Tonnen kann der Kran bis zu 100 Meter weit in bis zu 50 Meter Höhe verfrachten. Das Gewicht entspricht ungefähr dem von 15 Elefanten in Hagenbecks Tierpark. Der Aufbau des 120 Meter hohen Kolosses hat zwei Tage gedauert. 32 Sattelschlepper waren für den Transport nötig.
Die größte Herausforderung sei es, den Terminplan einzuhalten, sagt der Chef. Das setzt eine ausgeklügelte Logistik voraus. Aber nicht immer klappt alles so wie geplant. „Mehrere Anlagekomponenten wurden vor Monaten bestellt, aber jetzt erst geliefert. Mit mehrwöchiger Verspätung“, sagt der Holborn-Chef. Und nicht alles, was in Moorburg ankommt, ist auch in Ordnung. „Einige Komponenten wie Druckbehälter werden bei Blohm & Voss repariert und nachgearbeitet“, sagt der Geschäftsführer. „Uns nützt kein Anlagenteil, das nicht mindestens fünf Jahre tadellos funktioniert. Die Schweißnähte müssen stimmen. Und es müssen die richtigen Komponenten verbaut werden.“
Im Kern der Anlage öffnet Nadine (25) einen Schieber. Normalerweise befindet sich in dem Fallrohr Vakuumschweröl. Jetzt, nach den Reinigungsarbeiten, tropft aus dem Rohr klares Wasser. „Was ich nicht aufkriege, kriegt auch kein Mann auf“, sagt die Chemikantin aus Moorfleet, die ihr Gesicht hinter Helm und Schutzbrille verbirgt. Nadine hat bei Shell gelernt und arbeitet seit acht Jahren als Operator bei Holborn. Als sie hier anfing, war sie die einzige Frau in dem Männerjob, erzählt Nadine. Es habe etwas gedauert, bis sich die Männer an sie gewöhnt hätten. „Inzwischen werde ich gut akzeptiert. Wir Frauen werden hier im Betrieb immer mehr.“
Vorbei an metergroßen Schekeln, frisch geschweißten Rohren und Arbeitern in weißen Schutzanzügen, die Eisenteile mit dem Hochdruckwasserstrahl reinigen, begrüßt der Holborn-Chef Gerüstbauer im Klettergeschirr mit einem freundlichen „Moin“. Die Gerüstbauer kommen aus Albanien, Rumänien und der Ukraine. Es sei äußerst schwierig, genügend Gerüstbauer auf die Baustelle zu bekommen, erzählt Heyder. „100 Gerüstbauer sind da. Wir bräuchten aber 150. Selbst wenn wir den doppelten Preis zahlen, sind in Deutschland keine mehr zu bekommen.“ Holborn hat sogar in Dänemark und Polen angefragt.
Brennkammer des Ofensso groß wie ein Blockhaus
Heyder zeigt Besuchern den Aufstieg über die enge Metalltreppe hinauf zur Reaktorkuppel. In der Ferne ist das Kraftwerk Moorburg zu sehen. Der Geschäftsführer zückt ein Stück Kreide und zeichnet die Umrisse des Reaktors und des Regenerators an ein Rohr. „Damit aus Schweröl Benzin und Diesel werden kann, wird es zunächst auf 400 Grad erwärmt. Im Regenerator wird dann das so genannte Catfeed bei 700 Grad mit Vogelsand als Katalysator aufgespalten und gereinigt.“ Die Energie liefert ein gasbefeuerter Röhrenofen mit 22 Megawatt Wärmeleistung.
Die Brennkammer gleicht in ihrer Größe, Form und Farbe einem Blockhaus. Auch sie wird von Hand gereinigt. Wie die mächtigen Wärmetauscher, in denen der erhitzte Kraftstoff zum Vorwärmen anderer Produkte verwendet wird. Unten auf dem Waschplatz rücken Arbeiter in blauen Schutzanzügen den tonnenschweren Wärmetauschern zu Leibe. Mit Hochdrucklanzen drücken sie Wasser mit bis zu 1000 Bar in die Rohrpakete. Die Wandstärke der Leitungen wird mit Röntgenstrahlen überprüft. Auch Korossionsschäden werden auf diese Weise sichtbar gemacht. „Die Schattenaufnahmen werden vor allem nachts angefertigt. Weil da weniger Menschen auf dem Gelände sind“, erklärt Heyder.
Die TÜV-Prüfung erfolgt in drei Arbeitsschritten. Als erstes arbeiten interne Inspektoren eine Liste mit Prüfpunkten ab. Stimmen die Wandstärken? Gibt es Korrosionsschäden? Anschließend schaut sich der TÜV-Inspektor die auseinandergebauten Teile an. Dann kommt der Zusammenbau – und, wenn alle gut ist, die Kennzeichnung mit einem grünen Bändchen. Schließlich folgt die finale Inspektion des Bauteils, mit Druckprobe und Dichtigkeitsprüfungen unter den Augen von TÜV-Sachverständigen und internen Inspektoren.
In luftiger Höhe setzen Schweißer die ersten Schweißpunkte an die Bühne. Einer stemmt das schwere Metallteil seitlich gegen die Kuppel, während der andere wenige Zentimeter über seinem Kopf schweißt. Auf dem Gerüst herrscht drangvolle Enge. Noch dazu ist es unter der schützenden Plane brüllend heiß. Keine Frage: Das hier ist körperliche Schwerstarbeit im Werkstillstand.
Für Frank Heyder ist es der siebte und letzte Turnaround bei Holborn, den er persönlich verantwortet. Bisher ist immer alles gut gegangen. Heyder ist erst froh, wenn die Sache auch diesmal wieder glatt über die Bühne gegangen sein wird. Am Freitag wird die Raffinerie wieder schrittweise hochgefahren. Noch in diesem Jahr wird der Geschäftsführer nach 30 Jahren bei Holborn in Rente gehen. Doch für Stillstand ist es für ihn noch zu früh. Der Chef schmunzelt: „Ich habe gerade den schönen Auftrag bekommen, mich ab und zu um unsere kleine Enkelin zu kümmern.“ Das Baby kommt Mitte Oktober zur Welt.