Egestorf. Die Schüler der freien Einrichtung in Egestorf bestimmen selbst, was sie wann lernen wollen. Für 2019 ist Umzug nach Seevetal geplant.
Linn und Finja sitzen dicht beieinander auf dem roten Teppich und stecken die Köpfe zusammen. Vor ihnen liegt ein Lernspiel, auf dem die beiden acht und neun Jahre alten Mädchen bunte Stecker hin- und herschieben. Lehrerin Antje Schierhorn sitzt daneben, beobachtet und beantwortet die Fragen der Schülerinnen.
Im Hintergrund sitzt ihr Kollege bei vier Mädchen, die der Reihe nach würfeln. Auf einer Holzbank stehen Gläser mit Malfarben, neben jedem liegt ein Pinsel. Wer will, kann sich hier jederzeit künstlerisch austoben. Aus dem Eingangsraum der Schule, in dem neben der Sprossenwand ein Keyboard steht, tönt Musik.
In der neuen Demokratischen Grundschule, die zum Schuljahresbeginn mit zunächst zwölf Schülern in Egestorf eröffnet hat, läuft einiges anders als in Regelschulen. Die Kinder sollen lernen, sich selbstständig das für die Grundschule erforderliche Wissen anzueignen – ohne Zensuren, Stundenpläne oder Klassenarbeiten. Eine Trennung nach Jahrgängen gibt es nicht, die Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren lernen gemeinsam.
Antje Schierhorn ist eine von vier Kollegen – alles ausgebildete Grundschullehrer – die hier unterrichten. Nach einer Montessori-Ausbildung hatte sie nach Alternativen zu staatlichen Schulen gesucht und ist nun froh, in Egestorf zu unterrichten. „Ich hatte zwar ein bisschen Sorge, dass hier doch nur herumgespielt wird“, sagt sie. „Aber es ist ein emsiges Treiben, die Kinder wollen wirklich lernen.“
An den Schulen, an denen die 40-Jährige zuvor unterrichtet hat, sei es schwierig gewesen, allen Kinder gerecht zu werden. „Es entsteht ein großer Druck, die festgelegten Ziele zu bestimmten Zeitpunkten zu erreichen. Hier kann jedes Kind in seinem Tempo lernen.“ Die neunjährige Linn übe zum Beispiel schon mit den Heften – ganz normale, das habe sie sich gewünscht – für die fünfte Klasse.
Finja freut sich an diesem Vormittag vor allem darauf, ganz viel zu lesen. „Ich habe ein dickes Buch dabei, das will ich heute noch durchlesen.“ Sie verzieht sich mit ihrer Mitschülerin in eine Ecke des großen Unterrichtsraums. Zwischen bunt bestickten Kissen holen die beiden ihre Bücher hervor und fangen an zu lesen.
Sich selbst Ziele setzen, Entscheidungen zu treffen und auch zu verantworten – das sollten die Kinder hier lernen, sagt Torsten Krüger. Der 33-Jährige ist im Hauptberuf bei der Bundesbank in Hamburg tätig. Außerdem ist er Erster Vorstand des Trägervereins Projekt Entfaltungsräume, den er im März dieses Jahres gemeinsam mit seiner Frau Marie gegründet hat. Unzufrieden mit dem staatlichen Schulsystem, beschlossen sie, selbst eine Schule nach ihren Vorstellungen zu gründen.
„Die Kinder haben dasselbe Ziel wie an Regelschulen, aber der Weg dahin ist frei“, beschreibt die 28-Jährige den wesentlichen Unterschied. Im Mittelpunkt steht an der Demokratischen Schule die Selbstbestimmtheit der Kinder. Beim täglichen Morgenkreis und bei einer wöchentlichen Schulversammlung dürfen sie selbst bestimmen, was sie wann lernen wollen.
„Wir wollen vom Kind her denken, seine Bedürfnisse erst nehmen und ihm auf Augenhöhe begegnen“, sagt Torsten Krüger. Und so besteht der selbst gestaltete Unterricht auch mal darin, dass vier Kinder gegenseitig Schüsseln mit kleinen Filzkugeln über die Köpfe kippen und lachend durch das bunte Durcheinander krabbeln.
Das Ehepaar Krüger wohnt mit der vierjährigen Tochter und dem einjährigen Sohn in Bispingen. Da aber viele Unterstützer des Vereins aus dem Raum Seevetal kommen, haben sie in der ehemaligen Grundschule in Egestorf einen Standort gefunden. Der Mietvertrag mit der Samtgemeinde Hanstedt gilt für ein Jahr. Zu Beginn des kommenden Schuljahres steht dann der Umzug ins ehemalige Jugendheim in Ohlendorf in der Gemeinde Seevetal an.
Lehrerin Susanne Wolniak steht in der Eingangshalle der Schule vor einer Wand, an der nebeneinander zwölf weiße Blätter – für jedes Kind eines – angeheftet sind. Mit einem Stift notiert sie darauf, womit sich ihre Schüler gerade beschäftigt haben. Damit die Eltern eine Rückmeldung zum Lernstand ihres Kindes bekommen, dokumentieren die Lehrer alle Aktivitäten. Am Ende des Jahres gibt es einen sogenannten Lernstandsbericht, in den alle diese Beobachtungen einfließen. Nach vier Jahren müssen die Kinder dieselben Lernziele erreicht haben wie Regelschüler.
Darüber machen sich Linn und Finja jetzt keine Gedanken. Die Mädchen haben ihre Bücher beiseite gelegt und flitzen mit kleinen Tretrollern über den Schulhof. Susanne Wolniak schaut den beiden hinterher. Sie und ihr Mann René, ebenfalls Lehrer, hätten schon darüber nachgedacht, irgendwann selbst eine Schule zu gründen. „Dass wir jetzt hier sind, ist wie ein Traum.“
Das selbstbestimmte Lernen funktioniere sehr gut, sagt Susanne Wolniak. „Einige Kinder haben anfangs stundenlang zum Beispiel mit Bügelperlen gespielt. Aber irgendwann wurde das langweilig und dann haben sie sich selbst was anderes gesucht.“
An seiner alten Schule sei er mit seinen Lehrmethoden angeeckt, sagt René Wolniak. „Hier kann ich freier und offener arbeiten. Und man merkt sofort, dass die Kinder etwas lernen wollen. Das ist einfach schön zu sehen.“
Eltern zahlen Geld
Die Finanzierung des Schulbetriebs sichert der Verein über einen Bankkredit, Vereinsbeiträge und das Schulgeld, das bei 200 Euro pro Monat liegt. Vom vierten Betriebsjahr an gibt es zudem staatliche Zuschüsse für Schulen in freier Trägerschaft.
Der Unterricht wird montags bis freitags von 9 bis 14 Uhr angeboten. Für die Schüler gilt Gleitzeit, es gibt einen täglichen Morgenkreis, aber keine Stundenpläne. Anstelle von Zeugnissen gibt es Lernstandsberichte. Die Erweiterung um eine Oberschule ist geplant, in zwei Jahren soll es soweit sein. Zurzeit hat die Schule Platz für 20 Kinder.
Für interessierte Eltern gibt es am Sonnabend, 24. August, von 16 bis 18 Uhr einen Schnuppernachmittag in der Schule an der Schätzendorfer Straße 8 in Egestorf. Weitere Informationen gibt es im Internet: www.projekt-entfaltungsraeume.de.