„Die Fitmacher“ – Heute: Nico Gothe macht in seiner Kampfsportakademie-Nord aus kleinen Menschen große Drachenbändiger.
Beide Fäuste vors Gesicht. Der Blick entschlossen. Der Körper in Spannung. Dann rennt Emma los. Brüllt wie ein Löwe. Mit einem gewaltigen Tritt befördert sie den großen, schwarzen Sandsack zu Boden. Das kleine Mädchen mit den hellblonden Haaren richtet sich auf und strahlt über das ganze Gesicht. Weil sie weiß, dass sie stark sein kann, wenn es drauf ankommt. Stark wie ein Tiger.
„Was macht ihr, wenn euch ein Fremder bedroht?“, fragt Nico Gothe. Emma, Mika und Gian-Luca formen die Finger zu Krallen. Richten sie auf das Gesicht ihres Trainers. „Genau“, sagt dieser. „Tigerkrallen!“ Die drei Kinder sind sechs Jahre alt. Und sie wissen genau, was sie tun müssen, wenn sie von einem Fremden angegriffen werden. „Finger in die Augen“, sagt Mika. „Tigerkrallen“, ergänzt Gian-Luca. „Und wenn der Angreifer deine Arme festhält?“, fragt Nico Gothe. „Beißen!“, ruft Emma.
Es ist Montagnachmittag. In der Kampfsportakademie-Nord im Zentrum von Hittfeld, gleich neben der Kirche St. Mauritius, haben sich ein Dutzend Kinder zum Training versammelt. Sie nennen sich Lil’ Dragons - die Drachenbändiger. Und was sie lernen, ist stark zu sein, wenn es drauf ankommt, sich Herausforderungen zu stellen und selbstbewusst aufzutreten – in jedem Bereich des Lebens. „Das Lil’ Dragon-Programm ist eines der erfolgreichsten Kinderprogramme aus den USA“, sagt Nico Gothe. „Wir vermitteln in diesem Programm Respekt, Disziplin und in kindgerechter Art und Weise verschiedene Aspekte der Selbstverteidigung.“
Die Kinder lernen, ihre Bewegungen zu koordinieren, sich zu konzentrieren und blitzartig zu reagieren, wenn es drauf ankommt. Sie lernen aber auch das, was sie zuhause häufig nicht mehr dürfen, miteinander zu rangeln, sich zu balgen. Etwas, dass den Kindern im Blut liege, sagt Nico Gothe. „Und das viele Eltern heutzutage zu häufig unterbinden.“ Gothe schüttelt den Kopf. „Sagen Sie mal einem Hundewelpen, dass er sich nicht mit seinen Geschwistern raufen darf. Das wäre Tierquälerei.“ Genauso sei das bei Kindern. Sich auch mal körperlich miteinander zu messen, gehöre in der Entwicklung dazu.
Kleine Drachenbändiger trainieren dreimal in der Woche
In den Räumen der Kampfsportakademie haben die Kleinen die Möglichkeit, ihre Kräfte auszuprobieren. Und sie lernen, diese gezielt einzusetzen, wenn es drauf ankommt. Dreimal wöchentlich treffen sich allein die vier- bis sechsjährigen Drachenbändiger zum Training. Hinzu kommen die Mini-Dragons im Alter von zwei bis vier sowie die Dragons zwischen sechs und neun Jahren. Zeitgleich können sie ein weiteres Angebot der Kampfsportakademie nutzen.
„Krav Maga for Kids“ heißt dieses Selbstverteidigungstraining für Kinder auf Basis von Krav Maga. „Krav Maga ist ein israelisches Sicherheitssystem welches Erwachsene und Kinder in kürzester Zeit selbstverteidigungsfähig macht“, sagt Nico Gothe. „Die von uns vermittelten Strategien sowie das taktische Verhalten versetzt die Kinder selbst in die Lage Gefahrensituation mit Erwachsenen oder Gleichaltrigen rechtzeitig einzuschätzen und dadurch im Ansatz zu vermeiden.“ Sollte es dennoch zu einem Übergriff kommen so werde den Kindern auf im Krav Maga Training gezeigt, was in der jeweiligen Situation zu tun sei.
Die Nachfrage nach den Trainingsangeboten ist groß. Zwei Drittel der Kurse in der Kampfsportakademie richten sich an Kinder. „Die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft nimmt immer mehr zu“, sagt Nico Gothe, „auch bei den Kindern und Jugendlichen.“ Kein Wunder, Schlagen, Treten, Vernichten, Erobern sei in den Medien omnipräsent. „Wir haben früher Cowboy und Indianer gespielt, heute kommen die Kinder zum Teil mit Messern in die Grundschule.“
Trainiert werden Lösungen für Konfliktfälle. Und vor allem Selbstsicherheit. Denn 80 Prozent von potenziellen Übergriffen würden durch sicheres Auftreten vermieden werden, sagt Gothe. „Unser Ziel ist es, dass Kinder lernen, gar nicht erst in eine bedrohliche Situation hineinzugeraten.“
Daher gehe es neben vielen praktischen Übungen zur Koordination, Beweglichkeit und Geschicklichkeit auch um theoretische Dinge, das eigene Bauchgefühl und einfache Regeln wie: „Ich lasse mich nicht überreden in ein fremdes Auto einzusteigen.“ „Erwachsene haben Kinder nicht um Hilfe zu bitten“, erklärt Nico Gothe den Kindern. „Dann müssen alle eure Alarmglocken angehen.“ Was die Kinder in dieser Situation tun sollen, erfahren sie auch: „Ich renne in das nächste Geschäft und bitte um Hilfe. Ich benutze klare Worte.“
Dem Trainer geht es darum, die Kinder dort abzuholen, wo sie stehen. „Egal ob ein kleiner Haudegen oder ein extrem schüchternes Kind — wir vermitteln jedem das Gefühl: ‘Ja, das schaffe ich’.“ Wie das geht, hat er in zahlreichen Seminaren gelernt. Die Liste seiner Referenzen ist lang. So hat sich der 53-Jährige unter anderem zum Lil’ Dragon Instructor, Schmerz- und Sporttherapeuten, Rettungs- und Bergungstaucher ausbilden lassen, darf sich KMG-Instructor nennen, besitzt eine Boxen- und Kickboxen-Lizenz und etliche Spezialausbildungen auch für den Erwachsenenbereich.
Am wichtigsten aber sind ihm die Kinder. Ihnen eine ,,Ja, das schaffe ich“-Einstellung zu vermitteln, welche die Kids sowohl im Sport als auch im Leben begleiten sollte. Wie gut sich Kampfsport dafür eignet, hat der vielfach ausgezeichnete Trainer am eigenen Leib erfahren. „Ich war ein ziemlich hibbeliges Kind“, sagt er. „Heute würde man dazu wohl ADHS-Kind sagen. Meine Mutter hat mich zum Judo geschickt, da war ich drei. Ich fühlte mich gut aufgehoben, mochte die klaren Regeln, den Respekt, die Disziplin und das Herumtollen.“
Mit sieben wechselt er zum Karate, dann zum Kickboxen, trainiert als Jugendlicher sechs Mal die Woche und schafft es bis zum Titelgewinn bei den Europameisterschaften. Als Trainer arbeitet der gelernte Elektriker zunächst in Wilhelmsburg bis er 2010 gemeinsam mit seiner damaligen Lebensgefährtin seine eigene Kampfsportschule in Hittfeld eröffnet. Aus den USA hört er vom Lil’-Dragon-Programm und besorgt die Lizenz. „Wir sind damals mit drei Kindern im Kurs gestartet“, erinnert er sich. Heute sind es 300.
Eltern wünschen sich mehr Selbstbewusstsein für ihr Kind
Die Eltern bringen ihre Schützlinge hierher, weil sie sich mehr Selbstsicherheit für ihr Kind wünschen. Und die Kinder bleiben, weil sie Spaß haben. Stephanie Stiehler hat ihren Sohn Gian-Luca mit drei Jahren das erste Mal zum Training gefahren. „Weil ich wollte, dass er mehr Selbstbewusstsein entwickelt, gute Körperkoordination und eine klare Körpersprache“, sagt sie.
Heute ist Gian-Luca sechs und ganz vorn mit dabei, wenn es darum geht, Sandsäcke wegzukicken und Angriffen geschickt auszuweichen.“ Wie die anderen Eltern auch, fiebert sie an den Prüfungstagen mit, wenn nach 14 Trainingseinheiten die kleinen Drachenkämpfer sich einen neuen Gürtel erarbeiten dürfen.
Emma hat inzwischen drei Gurtprüfungen geschafft. Stolz zeigt die Sechsjährige ihren roten Gürtel, den sie mit einem Knoten um die weiße Trainingsjacke geschnürt hat. Sie kann brüllen wie ein Löwe, kratzen wie ein Tiger und beißen wie ein Krokodil. Und sie weiß, wie sie sich bei ungewolltem Kontakt wehren kann. Nach den Sommerferien kommt sie in die Schule. Sie freut sich darauf und hat keine Angst. Weil sie weiß, dass sie alles schaffen kann.
Selbstverteidigung
Als Selbstverteidigung wird die Vermeidung und die Abwehr von Angriffen auf die seelische oder körperliche Unversehrtheit eines Menschen bezeichnet.
Die Spannweite solcher Angriffe beginnt bei Nichtbeachtung, unbedachten Äußerungen, Einnehmen von Gemeinschaftsraum, setzt sich fort über Beleidigungen, Mobbing und Körperverletzung und reicht bis zu schwersten Gewaltverbrechen. Dabei ist jedoch immer die Ausübung von Macht das Ziel des Täters.
Die überwiegende Anzahl solcher Angriffe wird nicht von Fremden, sondern von Bekannten (Mitschüler, Verwandte, Ehepartner) verübt.
Beispiele von Maßnahmen zur Vermeidung der Angriffe: Wenn Kinder nicht zu Fremden ins Auto steigen und die Haustür nicht öffnen, wenn es klingelt, dann vermeiden sie potenziell gefährliche Situationen. Ebenso handelt, wer um gewisse Menschengruppen lieber einen Bogen macht, Abkürzungen durch menschenleere Gegenden vermeidet, oder sich nicht mit Worten provozieren lässt.
Das Angebot
Das Lil’-Dragon-Programm wird im Raum Süderelbe in Hittfeld, Dollern, Lüneburg und Buchholz angeboten. Für Kinder gibt es außerdem Kurse im Kickboxen und Selbstverteidigung Krav Maga.
In der Kampfsportakademie-Nord in Hittfeld finden neben den Kinderkursen auch Kurse für Erwachsene statt. Dazu gehören Kickboxen, Selbstverteidigung, Kurse in Krav Maga und Just Strong.
Für Polizisten bietet die Kampfsportakademie-Nord kostenlose Wochenendkurse im Bereich Selbstverteidigung an.
Ein Monatsbeitrag für ein Kind kostet 49 Euro. Wer zweimal in der Woche trainieren möchte, zahlt 59 Euro pro Monat. Ein Probetraining ist kostenlos. Weitere Infos gibt es unter www.kampfsportakademie-nord.de oder per Telefon: 0800 141 24 44