Winsen/Buchholz. Nach Erstberatung fehlt Unterstützung für misshandelte Frauen im Landkreis. Weite Wege erschweren Hilfe
An einem Tag in der Woche bleibt es ruhig, an jedem der übrigen sechs Tage wird im Landkreis Harburg eine Frau von ihrem eigenen Mann misshandelt. Natürlich verteilen sich die Gewalttaten nicht so gleichmäßig, doch die Zahlen sind alarmierend: 309 Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen hat die Beratungsstelle BISS im vergangenen Jahr gezählt – und das sind nur die Fälle, in denen die Polizei vor Ort war oder sich das Opfer selbst gemeldet hat.
Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Deutschlandweit ist einer Studie des Bundesfamilienministeriums zufolge jede vierte Frau von Gewalt betroffen. „Das kann körperliche, psychische oder finanzielle Gewalt sein“, sagt Andrea Schrag, Gleichstellungsbeauftragte im Landkreis Harburg.
Sobald die Polizei ins Spiel kommt, benachrichtigen die Beamten die Beratungs- und Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt (BISS). Die vom Diakonischen Werk getragene und von Land und Landkreis finanzierte Einrichtung ist mit einer halben Stelle ausgestattet. Sie ist neben dem Frauenhaus die einzige Anlaufstelle für misshandelte Frauen im Landkreis.
Von Buchholz aus berät Dörthe Heien seit zwölf Jahren betroffene Frauen, die aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen. „Besonders gefährliche Phasen sind rund um Schwangerschaft, Zusammenziehen und vor allem Trennung“, sagt die Diplom-Pädagogin. Die Gewaltspirale baue sich langsam auf, meistens in einer Mischung verschiedener Gewaltformen.
„Erst ist der Mann vielleicht nur eifersüchtig, später kontrolliert er ihr Handy, teilt ihr Geld zu, verbietet Treffen mit Freundinnen oder die Berufstätigkeit. Wenn zum Beispiel Alkohol dazukommt, eskaliert die Situation“, beschreibt Heien einen typischen Verlauf. Dann folgten oft Entschuldigungen und Versprechungen, eine Therapie zu machen, sowie eine positiv erlebte „Honeymoonphase“ – bis der Mann erneut gewalttätig werde.
Dazu gehören auch Drohungen, die Frau könne ihre Kinder oder ihren Aufenthaltsstatus verlieren, sowie Beschimpfungen. In fast allen Polizeiberichten tauchten Wörter wie „Schlampe“ oder „Hure“ auf, sagt Heien. „Die Frau wird immer mit sexualisierten Begriffen abgewertet.“
Die BISS-Beraterin nimmt nach einem Polizeieinsatz zunächst per Telefon Kontakt zu den Frauen auf. Auf Wunsch vereinbaren sie einen Gesprächstermin, bei dem geklärt wird, welche ersten Schritte die Frau unternehmen kann. „Das wichtigste ist, dass sie über ihre Angst reden kann“, sagt Heien. „Oft höre ich, dass die Frau sich zum ersten Mal ernst genommen fühlt.“ In manchen Fällen darf der Täter die gemeinsame Wohnung für ein oder zwei Wochen nicht betreten. In dieser Zeit kann die Frau planen, wie es danach weitergehen soll.
Eine Möglichkeit ist der vorübergehende Umzug in das Frauenhaus des Landkreises. Frauen, die zu Hause in Gefahr sind, und ihre Kinder erhalten hier Unterstützung durch drei Sozialpädagoginnen und zwei Erzieherinnen. Es ist Platz für acht Frauen und 16 Kinder, Jungen können nur bis zum Alter von 13 Jahren mitkommen.
Zu einer schnellen Trennung könnten sich die wenigsten Opfer durchringen. „Im Durchschnitt verharrt eine Frau rund sieben Jahre in einer Gewaltbeziehung“, sagt Andrea Schrag. Die Gründe liegen oft in der – tatsächlichen oder gefühlten – Abhängigkeit der Frau von ihrem Mann. Wenn Kinder beteiligt sind, ist ihre Lage besonders schwierig. Viele Frauen hätten Angst, ihre Familie zu zerstören, sagt die Gleichstellungsbeauftragte. „Aber für Kinder ist es traumatisch, wenn sie mit ansehen, wie ihre Mutter vergewaltigt wird, wie sie weint und wimmert.“
Jeweils etwa 50 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erwachsener Frauen – Vergewaltigungen – registrierte die Polizei in den vergangenen drei Jahren im Landkreis Harburg. Auch in diesen Fällen werden die Frauen von der BISS-Beraterin für ein erstes Gespräch kontaktiert. „Es fehlt aber eine Anlaufstelle, in der geschulte Berater speziell Vergewaltigungsopfer betreuen“, sagt Heien. „So etwas lässt sich nicht nebenbei erledigen, das erfordert Fachwissen.“
Auch für behinderte Frauen und Opfer ritueller Gewalt – wie Genitalverstümmelung oder Zwangsheirat – gebe es keine spezialisierte Beratung. Ein weiteres Problem im Landkreis sind die weiten Wege. Die BISS liegt in Buchholz, dort werden auch die Beratungsgespräche geführt. „Das ist für eine Frau aus Salzhausen ein großer Aufwand, vor allem, wenn sie kein Auto hat und Kinder versorgen muss“, sagt Dörthe Heien.
Deshalb fordern die Gleichstellungsbeauftragten im Landkreis Harburg die Einrichtung einer Gewaltberatungsstelle für Frauen und Mädchen. Sie soll an die Erstberatung der BISS anschließen und auch Prävention an Schulen ermöglichen. „Erleidet eine Frau Gewalt in der Beziehung, ist der Kontakt zum institutionellen Hilfssystem eine Chance für Unterstützung und Veränderung“, sagt Schrag. „Es bedeutet aber auch, dass auf die meisten Frauen ein Arbeitsberg wartet.“
Sie müssten sich bei verschiedenen Stellen beispielsweise um eine Wohnung, Kinderbetreuung, eine Arbeitsstelle, rechtliche Beratung oder finanzielle Unterstützung kümmern. Ein umfangreiches Hilfsangebot, das auch mobile Beratung in den Gemeinden umfasst, sei dringend notwendig, sagt Andrea Schrag. „Denn massive Gewalt gegen Frauen gibt es auch in unserem beschaulichen Landkreis.“
Der Landkreis Harburg ist mit zwei Unterstützungsangeboten – BISS und Frauenhaus – deutlich schlechter aufgestellt als andere Regionen in Niedersachsen. Nur Friesland und Ammerland sind ähnlich unterversorgt. In den Landkreisen Stade und Lüneburg gibt es jeweils vier Angebote für Frauen, die Gewalt erlitten haben. Mit fünf Einrichtungen ist der Kreis Osnabrück vorbildlich aufgestellt.
Das Netzwerk ProBeweis bietet – unabhängig von einer Anzeige – die Sicherung von Spuren an, auch in den Krankenhäusern Winsen und Buchholz. Nur so sind Spuren vor Gericht verwertbar. Die Dokumentation beim Hausarzt reicht dafür nicht aus. Infos auf www.probeweis.de