Harburg. Gebäude in der Harburger Rathausstraße steht zehn Jahre leer. Eigentümer will nicht verkaufen – Behörden sind machtlos.

In den Fenstern hängen alte Gardinen und vergilbte Rollos. Schaufenster sind mit Folie beklebt. Die Läden und das gesamte Eckhaus an der Harburger Rathausstraße 45 stehen leer. Seit Jahren iat das so. Dabei ist das Interesse an dem Haus im Herzen der Innenstadt riesengroß – und es nimmt zu.

„Fast jeden Tag bekommen wir Anrufe von Interessenten und Anfragen für die Ladenflächen“, sagt die Harburger Citymanagerein Melanie Gitte Lansmann auf Anfrage des Abendblattes. Sie kann nicht verstehen, dass das Haus so lange leer steht. Verschiedene Makler hätten sich bei ihr immer wieder um das Gebäude bemüht – vergeblich. „Anscheinend wohnt der Besitzer ja noch da drin“, sagt die Citymanagerin. „Soviel Wohnraum sollte aber nicht leerstehen. Ich finde das sehr sehr bedauerlich. Dadurch entfallen auch Steuereinnahmen.“

Nachbarn wünschen sich, dass endlich wieder Leben in das Eckhaus einzieht. „Viele Leute kommen in unseren Laden und fragen, was da drüben los ist und wie man da rankommt. Dann erzählen wir immer das Gleiche“, sagt Hörakustikmeisterin Christin Will von Vitakustik gegenüber. „Es wäre für uns gut, wenn da ein Magnet ist. Wir würden auch davon profitieren, wenn da unten ein vernünftiges Geschäft drin ist. Wir waren da selbst einmal mit unserer Vorgängerfirma drin. Das war vor zwölf Jahren.“ Seitdem steht die Fläche leer.

Stolpersteine auf dem Pflaster erinnern daran, dass hier einst eine jüdische Familie lebte. Die Mutter und ihre drei Kinder wurden im Krieg von den Nazis deportiert und ermordet
Stolpersteine auf dem Pflaster erinnern daran, dass hier einst eine jüdische Familie lebte. Die Mutter und ihre drei Kinder wurden im Krieg von den Nazis deportiert und ermordet © HA | Jörg Riefenstahl

Nebenan in der Harburger Rathausstraße hat Mehmet Almaz Anfang des Jahres einen kleinen Telefonladen eröffnet. „Ich habe den Besitzer des Nachbarhauses einmal gesehen. Vor der Haustür, vor zwei Monaten“, erzählt Almaz. Dass der sein Haus leer stehen lässt, kann er nicht begreifen. „Es ist tödlich für uns“, sagt der Ladeninhaber. „Unten sind drei tolle Läden. Man könnte da ein schönes Restaurant einrichten. Ich habe drei Leute, die ihm die Miete im Voraus bezahlen. Aber er will nicht. Er sagt, er hat ,andere Projekte’.“

Was steckt hinter der Fassade an der Kreuzung zur Bremer Straße? Wem gehört das Haus überhaupt? Warum steht es so lange leer? Auf dem Pflaster erinnern Stolpersteine an einstige Bewohner des Hauses: Johanna Horwitz und ihre drei Kinder Gertrude, Kurt und Elfriede wurden hier 1942 von den Nazis deportiert und in Theresienstadt, Piaski, Majdanek und Auschwitz ermordet. Wegen ihres jüdischen Glaubens.

Heute stehen am Klingelschild verblasste Namen – darunter der Name des Mannes, dem das Haus gehört. Er wohnt allein im ersten Stock, heißt es. Manchmal brennt oben im Fenster fahles Licht. Das Abendblatt hat mehrmals geklingelt. Aber niemand öffnete. Auch telefonisch ist niemand zu erreichen.

Mehmet Almaz hat Anfang des Jahres nebenan einen kleinen Telefonladen eröffnet. „Ich habe den Besitzer des Nachbarhauses nur einmal gesehen. Vor der Haustür, vor zwei Monaten“
Mehmet Almaz hat Anfang des Jahres nebenan einen kleinen Telefonladen eröffnet. „Ich habe den Besitzer des Nachbarhauses nur einmal gesehen. Vor der Haustür, vor zwei Monaten“ © HA | Jörg Riefenstahl

Auf dem Dach des Hauses steht eine windschiefe Fernsehantenne. Sie erinnert daran, dass es hier einmal ganz normales Leben gegeben hat. Mit Familien, die hier wohnten. Und kleinen Modeläden im Erdgeschoss. Davon ist nichts übrig. Das Eckhaus gleicht einem Geisterhaus. Passanten schlendern auf dem Weg in die Lüneburger Straße vorbei. Die wenigsten nehmen Notiz.

Das Haus gleich nebenan, in dem sich der neue Telefonladen befindet, wurde 2015 neu errichtet. Dafür musste Haus 45 neu unterfangen werden. „Ich habe den Eigentümer damals gefragt, ob er sein Haus verkaufen will. Aber ich bekam keine Antwort von ihm auf mein Schreiben“, berichtet der Eigentümer des Nachbarhauses. „Es ist eine 1A-Lage hier. Die Bausubstanz von Haus 45 ist nicht besonders gut. Es ist über 100 Jahre alt. Ich hätte es abgerissen und neu gebaut. Für Arztpraxen, Rechtsanwälte, Krankengymnastik und Gewerbe. Das, was Harburg hier dringend braucht.“

Aber ohne den Eigentümer von Haus 45 läuft nichts. „Seine Mutter hat bei der Behörde gearbeitet. Sie ist vor vielen Jahren gestorben“, erzählt der Nachbar. „Nach ihrem Tod hat ihr Sohn das Haus nicht vermietet. Er sagt, er habe ,gute Erinnerungen’ an das Haus. Da soll keiner rein.“

Vorübergehend hatte das Harburger Stadtmarketing Flächen im Erdgeschoss genutzt. Auch ein Hörgeräteakustiker war kurz dort. „Mit seinem Haus könnte der Eigentümer 600.000 bis 700.000 Euro im Jahr einnehmen. Davon würde die Stadt profitieren. Ihr gehen durch den Leerstand seit Jahren Steuereinnahmen durch die Lappen“, sagt der Nachbar. Für ihn sei so etwas „Steuerhinterziehung.“

Eine alte Dame aus der Nachbarschaft kennt den Eigentümer von Haus 45 von Kindesbeinen an. „Er sagt, er habe keine Lust, sich mit Vermietungen rumzuschlagen“, sagt sie. Seine Mutter habe bis zu ihrem Tode in dem Haus gewohnt. „Der Junge ist heute Anfang 60. Er hat noch ein Haus an der Maretstraße. Und noch eins am Exerzierplatz. Die stehen auch teilweise leer. Und ein schönes Haus in Travemünde. Dahin zieht er sich manchmal zurück.“ Die Fußböden in Haus 45 seien herausgerissen – möglicherweise Folge eines Brandwasserschadens. Die alte Dame schüttelt den Kopf. „Es ist nicht schön, dass alles so verkommt.“

Wie kann es sein, dass ein Wohn- und Geschäftshaus in so prominenter Lage trotz Hamburger Wohnraumschutzgesetz jahrelang leer steht? Das Abendblatt hat im Harburger Rathaus nachgefragt. „Das Wohnraumschutzgesetz greift bei gewerblichen Immobilien nicht“, sagt Bezirksamtssprecherin Bettina Maak. Dem Bezirk fehle eine rechtliche Handhabe, gegen den Leerstand von Büros, Ladenlokalen oder Gewerbeimmobilien vorzugehen.

„Das ist bedauerlich und zeigt sich leider auch an vielen anderen Standorten und in anderen Stadtteilen. Paradebeispiel ist das Harburg Center. Es steht seit zehn Jahren leer.“ Aber handelt es sich bei dem Eckhaus nicht in erster Linie um Wohnraum? Die Sprecherin winkt ab: „Das war einmal. Heutzutage würde man dort kein Wohnen mehr erlauben. Es sei denn, es gibt eine Ausnahmeregelung.“

Die könnte das Bezirksamt einem Käufer des Grundstücks theoretisch erteilen. Oder die Bezirksversammlung stellt einen neuen Bebauungplan auf. Das aber erscheint angesichts des erklärten Ziels der Sozialdemokraten in der Bezirksversammlung fraglich: Sie will den Flickenteppich kleinteiliger Bebauungspläne auflösen – und die Harburger City komplett zum Mischgebiet umwidmen. Da der jetzige Eigentümer des Eckhauses weder verkaufen noch eine Ausnahmegenehmigung haben will, könnte das Geisterhaus in bester Lage den Harburgern also noch sehr lange erhalten bleiben.

Leerstand

44 Häuser im Bezirk Harburg stehen laut leerstandsmelder.de derzeit leer – darunter das Haus Harburger Rathausstraße 45 und ein Wohnhaus in der Wilstorfer Straße 51 sowie Gewerbeimmobilien wie das Harburg Center oder das ehemalige Hotel „Schweizer Hof“ in der Moorstraße 19.

Das Wohn- und Geschäftshaus in der Harburger Rathaussstraße iliegt planungsrechtlich im Kerngebiet. Laut Baunutzungsverordnung dienen Kerngebiete vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie zentraler Einrichtungen der Wirtschaft, Verwaltung und Kultur.

Wohnen hat hier laut Bezirk nur Bestandschutz – was eine Wohnnutzung weiterhin erlaubt, aber andere Nutzungen nicht ausschließt. Außerhalb des Bestandschutzes wäre für eine Wohnnutzung (etwa in einem Neubau) nach heutiger Rechtslage eine Ausnahmegenehmigung erforderlich. Ein Einschreiten gegen das Zweckentfremdungsverbot sei nicht möglich.