H. Alexander hat seit der Geburt nur fünf Prozent Sehvermögen. Das Abendblatt hat mit ihm einen Rundgang durch die Innenstadt unternommen.

Tick-tack, tick-tack. Wie ein Pendel schwebt die kleine Kugel an der Spitze des Stocks flach über das Pflaster der Lüneburger Straße. Ab und zu hört man leises Rascheln. Oder ein „Klick“. Dann hat der weiße Teleskopstab gerade den Boden berührt. Manchmal macht es auch deutlich „Klack“.

Dann ist der Stab auf ein Hindernis getroffen. Alexander hält inne. Er weicht aus – und setzt seinen Gang kurz darauf mit unvermindertem Tempo durch die Harburger Innenstadt fort. Alexander ist blind. So steht es im Pass des jungen Mannes. Sein Sehvermögen beträgt fünf Prozent. Er selber sieht das anders. Er sagt von sich, er sei „sehbehindert“. „Blind würde ich nur sagen, wenn man gar nichts sieht.“

Im Supermarkt geht Alexander ganz dicht an die Ware heran und studiert die Preisschilder
Im Supermarkt geht Alexander ganz dicht an die Ware heran und studiert die Preisschilder © HA | Jörg Riefenstahl

Alexander ist von Geburt an blind. Ein Lungenriss wurde zu spät diagnostiziert. Ein Ärztefehler, damals in der Weihnachtszeit, hat seine Mutter ihm später erzählt. Alexander macht deswegen niemandem Vorwürfe. Er hat sein Schicksal akzeptiert und sein Leben in die Hand genommen. Der junge Mann, der in einer kleinen Einzimmerwohnung in Rönneburg lebt, hat es gelernt, mit seiner Einschränkung des Sehvermögens im besten Sinne umzugehen.

Wie fühlt es sich an, durch die Stadt zu laufen, wenn man die Umwelt nur eingeschränkt wahrnimmt, weil jemand das Licht radikal herunterdimmt? Wie ist es, in die Geschäfte zu gehen, um einzukaufen? Geht das überhaupt? Oder zur Bank, zur Uni oder in den Park? Wenn man nichts richtig erkennen kann, sondern alles um einen herum bestenfalls erahnt – zumindest aus dem Blickwinkel eines Normalsichtigen.

Genau damit fängt es an. „Ich kann zum Glück behaupten, ich kenne es nicht anders“, erzählt der hochgewachsene junge Mann auf dem Weg durch die Lüneburger Straße zum Phoenix-Center. Schnellen Schrittes, wohlgemerkt. „Die, die es plötzlich bekommen, haben es viel schwerer. Sie müssen von einem auf den anderen Tag alles neu lernen. Zum Beispiel statt Schwarzschrift die Blindenschrift.“

Computer und Bildschirme sind für Alexander ein wahrer Segen
Computer und Bildschirme sind für Alexander ein wahrer Segen © HA | Jörg Riefenstahl

Alexander (25) wuchs bei seinen Eltern in Blomberg in Ostwestfalen auf. Bis zur vierten Klasse besuchte er dort die Sehbehindertenschule, dann ging es ins Internat nach Marburg. Dort lebte er in einer Wohngruppe, mit sechs bis sieben Sehbehinderten. „Dort habe ich auch Haushalten gelernt“, sagt Alexander. Nach dem Abi mietete er sich zum Geschichts- und Politikstudium an der Uni Hamburg in einem Studentenwohnheim ein. „Ich war geschockt, wie dreckig es dort war“, sagt er. Heute lebt er allein in seiner Wohnung.

Zurück in der Lüneburger Straße. Die meisten Fußgänger weichen aus, wenn Alexander mit dem Blindenstock ihren Weg kreuzt. Aber nicht alle. „Früher wichen die Menschen eher aus. Es hat abgenommen“, erzählt Alexander. „Heute sind die Leute abgelenkt. Sie schauen auf Facebook, sie sind im Netz unterwegs.“ Einmal ist sein Stock sogar kaputt gegangen, als ihm jemand hineinlief.

Von den Bildern seiner siebenwöchigen Reise nach China hat Alexander ein Fotobuch gemacht
Von den Bildern seiner siebenwöchigen Reise nach China hat Alexander ein Fotobuch gemacht © HA | Jörg Riefenstahl

Die jungen Leute seien vertieft in ihre Smartphones und würden nicht viel mitbekommen. „Das finde ich ein bisschen schade“, sagt der junge Mann. Dabei schätzt er als Sehbehinderter die Vorzüge von Smartphones und Bildschirmen in besonderer Weise. „Die Taschenlampen-App zum Beispiel ist für mich ein Riesenhilfsmittel, um einen Hauseingang zu finden.

Und mit der Audio-App kann ich ein Interview problemlos aufzeichnen“, sagt der junge Mann, der gerade ein studentisches Praktikum beim Hamburger Abendblatt in der Regionalredaktion Harburg gemacht hat.

Zurück auf der Straße. Nachdem sich Alexander am hellen Touchscreen des Geldautomaten mit Bargeld versorgt hat, erreichen wir nach wenigen Minuten das Phoenix-Center. An der Bordsteinkante bleibt Alexander stehen. Er heftet sich an die Fersen einer Gruppe Passanten – und überquert mit ihnen gemeinsam die Fahrbahn. „Ich gehe die Wege, die ich kenne. Deshalb gehe ich im Schnellschritt“, erzählt er.

Neue Wege, etwa zu einer abendlichen Einladung von Freunden, schaut er sich vorher lieber auf Google Maps ganz genau an. In größtmöglicher Darstellung und höchster Helligkeit auf dem Bildschirm. Den Weg prägt er sich ins Gedächtnis ein. Und schreitet ihn einen Tag vor der Einladung zur Probe ab.

Im Phoenix-Center kennt Alexander den Weg. Sein Ziel ist der Rewe-Supermarkt. Die kleinen Geschäfte, die vielen bunten Schaufenster links und rechts nimmt er nicht wahr. Alexander ist mit Tunnelblick unterwegs. „Werbung beeinflusst mich nicht“, sagt er. Er weiß genau, was er will. „Toastbrot, Milch, Salami. Und ganz wichtig: Weingummi.“ Alexander schiebt seinen Teleskopstock zusammen und lässt ihn in den Einkaufswagen gleiten.

Er zückt einen Euro aus dem Portemonnaie und drückt ihn in den Münzschlitz, umfasst den Griff des Wagens – und wird ihn bis zum Ende seines Einkaufs nicht mehr loslassen. Zielstrebig steuert Alexander zum Brotregal. Er tastet nach den Packungen, befühlt sie vorsichtig, rückt die Brille auf die Stirn und presst seine Nase ganz dicht an die Preisschilder. Das Toastbrot wandert in den Korb.

„Alles hat seinen Platz. Da kenn ich mich aus“, sagt er. Aber was ist, wenn die Ware umsortiert wird? Alexander lacht. „Dann habe ich ein Problem. Das passiert in diesem Laden zum Glück nur sehr selten.“ Glasregale findet er unpraktisch. „Man kann die Preisschilder nicht erkennen. Sie sind viel zu weit weg“, sagt er. Wo steht die Milch? Neulich war sie doch noch hier? Jetzt steht sie drei Meter weiter links im Regal. Alexander tastet sich an der Scheibe entlang – und findet sie. Jetzt nur noch die Salami und Gummibärchen. „Gummibärchen sind immer dabei“, verrät Alexander und strahlt.

An der Kasse grüßt ihn die Kassiererin freundlich. „Er kommt öfter zum Einkaufen“, sagt sie. Auch beim Asiaten und auf der Straße grüßen ihn ab und zu Passanten. „Ich habe das Gefühl, die Leute kennen mich“, sagt Alexander. Sie sehen ihn – aber er kann sie nicht sehen. Er orientiert sich vielmehr mit seinem ganzen Körper. An der Bushaltestelle wartet er auf den 141er, der ihn nach Rönneburg bringt.

Vier Busse kommen auf einmal. Er rennt an den Fahrzeugen entlang, versucht an den Anzeigetafeln zu entziffern, um welchen Bus es sich handelt. Der 141er ist nicht dabei. Zuviel für Alexander. „Es wird Zeit, dass Harburg eine Straßenbahn bekommt“, sagt er unwirsch. „So wie in China. Das funktioniert tadellos. Warum nicht hier? Ständig sind Harburgs Straßen verstopft.“

In China? Alexander liebt es, zu reisen. Asien hat es ihm besonders angetan. Zusammen mit seinem Bruder Leon (22), der in Hangzhou „International Business“ studiert, und dessen Freundin Yong (23) hat er voriges Jahr sieben Wochen lang das Reich der Mitte bereist. „Wenn es ganz hell ist, die Sonne scheint, weißer Sand oder Schnee das Licht reflektiert, kann ich besser sehen“, verrät er.

Der 25 Jahre alte Student geht gern an der Harburger Außenmühle spazieren
Der 25 Jahre alte Student geht gern an der Harburger Außenmühle spazieren © HA | Jörg Riefenstahl

Unterwegs in China hat er sogar fotografiert. Und daraus ein Fotobuch gemacht. Mit Bildern der Terrakotta-Armee, den Panda-Bären von Cheng Du, der Stadt Xi’An, der Nachbildung des Pariser Eiffelturms. „Ich will unbedingt wieder da hin. Auch nach Hong Kong“, sagt er.

Der 141er kommt. Alexander findet einen Sitzplatz, rückwärts zur Fahrtrichtung. „Der ist meistens frei. Die Leute wollen nicht rückwärtsfahren.“ Für Alexander kein Problem. „Ich spüre am Fahrstil, wo ich gerade bin. Ich merke, wenn der Bus nach Rönneburg leicht bergauf fährt und dann wieder bergab“, sagt er. Nachts sieht er gar nichts. „Es ist alles rabenschwarz. Wenn ich abends mit dem Bus fahre, taucht kurz bevor ich zu Hause bin, eine weiße Neonröhre auf. Es ist die Beleuchtung eines Blumenladens. Die brennt die ganze Nacht. Dann weiß ich, ich muss aussteigen.“

In seiner Wohnung bereitet Alexander grünen Tee zu. Den hat er aus China mitgebracht. Mit den Fingerspitzen misst er die Menge Blatt für Blatt ab. „Drei Aufgüsse sind in China normal“, sagt er. Manchmal kocht er sogar in seiner kleinen Küche. „Das geht bei mir aber leider nur mit Stoppuhr. Ich sehe ja nicht, wenn etwas anbrennt.“

Deshalb wirft er im Sommer lieber den E-Grill an und brutzelt sich ein paar Würstchen. Draußen auf dem Balkon, wenn es schön hell ist.

„Ich bin der Einzige in meinem Freundeskreis, der eine Sehschwäche hat.“ Das ist an der Uni Hamburg übrigens genauso. „Ich bin der Einzige in meinem Jahrgang, der dort als Blinder studiert.“ Dank Laptop mit Helligkeitsregler heutzutage alles kein Problem. Die Bachelor-Arbeit hat er über die „Tagebücher von Siedlerfrauen in Deutsch-Südwestafrika“ gemacht. „Ich bin auf das Thema gekommen, nachdem ich schon in der Schule erfahren hatte, dass es Völkermord war, was die deutsche Kolonialmacht gegen die Aufständischen Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 unternommen hat.“

Namibia steht für Alexander als Reiseziel gleich hinter Asien ganz oben auf der Liste. Er ist eben neugierig und schaut gern mal über den Tellerrand – auch zu Hause in Harburg. Sei es beim Paddeln an den Elbbrücken mit dem Wassersportverein Süderelbe, beim Schwimmen im Sommer im Neuländer See oder im Freibad Neu Wulmstorf. „Beim Hafengeburtstag Schiffe besichtigen finde ich übrigens sehr cool. Ich laufe einfach hinter meinem Vordermann her. Das passt schon“, sagt er und lacht. Auch im Miniaturwunderland gibt es für ihn immer wieder Neues zu entdecken.

Sein Lieblingsplatz in Harburg ist – neben seinem über alles geschätzten Balkon – der Stadtparksee an der Außenmühle. „Hier finde ich Ruhe und Entspannung. Ich mag die Luft, de Weite, das Wasser“, sagt er, als wir am Wasser entlang spazieren. Ein Pudel wetzt vorbei, will offenbar spielen, schnappt nach Alexanders Stock. Der zieht den Stab unwillkürlich zurück: „Solange kein Hund kommt, ist alles okay.“

Nachtblindheit

Das Licht trifft im Auge auf die Netzhaut (Retina). Dort wird es von den Stäbchen- und Zapfenzellen verarbeitet und an den Sehnerv weitergeleitet.

Die Stäbchenzellen sind für das Sehen bei schlechten Lichtverhältnissen zuständig, während die Zapfenzellen für das Farbensehen zuständig sind. Die Zapfenzellen sind dabei weniger lichtempfindlich.

Je nach Stärke der Nachtblindheit ist die Funktion der Stäbchenzellen eingeschränkt. Oder nicht möglich, so dass das Sehen bei Dunkelheit nicht möglich ist. Bei der Farbblindheit sind wiederum die Zapfenzellen beeinträchtigt, so dass Betroffene nur in Grautönen sehen.