Im Bezirk gibt es zu wenig Psychotherapeuten. Die nehmen kaum noch neue Patienten an. Für Betroffene ein Martyrium.

Wer in Harburg einen Platz bei einem Psychotherapeuten sucht, braucht Geduld. Oft vergehen Monate oder gar mehrere Jahre, bis Betroffene bei einem Therapeuten mit Kassensitz eine Behandlung beginnen können. Die Rede ist von einer Wartezeit von einem Jahr und länger. Hört man sich unter Psychotherapeuten im Bezirk um, fallen zur Versorgung Worte wie „katastrophal“, „minimal“ oder „absolut nicht ausreichend“. Weitere Patienten nehmen viele Therapeuten schon längst nicht mehr auf. „Wir können bis auf Weiteres keine neuen Patienten mehr einplanen“, erzählt etwa eine Psychotherapeutin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Bis auf Weiteres bedeutet: in den nächsten Jahren.“ Viele Therapeuten führen nicht einmal mehr eine Warteliste – weil die Wartezeit oft utopisch lange wäre.

Für Betroffene gleicht die Suche nach einem Therapieplatz in Harburg einer Geduldsprobe; sie erfordert Kraft und Ausdauer, die gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig nicht haben. Viele bekommen eine Liste von Therapeuten von ihrem Hausarzt, die sie abtelefonieren sollen. Häufig erreichen sie dabei keinen Menschen, sondern einen Anrufbeantworter, und in vielen Fällen gibt es keinen Rückruf. „Es ist fatal und zermürbend, wenn man sich eingestanden hat, dass man Hilfe braucht, und es dann nicht weitergeht“, sagt Armin Rösl von der Deutschen Depressionsliga, einer Patientenvertretung.

Tanja Salkowski weiß, wie es ist, wenn man dringend einen Therapieplatz braucht und keinen findet. Nach einem Suizidversuch war der heute 40-Jährigen klar, dass sie Hilfe braucht. 20 Psychotherapeuten, erzählt die Autorin und Moderatorin aus Lübeck, habe sie angerufen, die immer gleiche Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen – das alleine „ist für einen Menschen mit Depressionen Höchststrafe“. Gebracht haben ihr die vielen Anrufe nichts: „Es gab keinen Rückruf. Bis heute nicht.“ Die Auswirkungen der erfolglosen Suche sind aus Salkowskis Sicht gravierend: „Man nimmt all seinen Mut zusammen, wird aktiv, und bekommt: Ignoranz.“ Dadurch fühle man sich noch unverstandener. „Man gerät noch mehr in einen tiefen Strudel, bis hin zu erneuten Suizidgedanken. Keiner möchte einem helfen, keiner ist da.“ Manche Betroffenen würden wütend auf die Therapeuten, erzählt eine Psychotherapeutin: „Viele werden am Telefon sauer und denken, dass wir nicht genug arbeiten wollen. Aber ich arbeite Vollzeit und mehr.“

Offiziell gilt die Hansestadt, die ein Versorgungsgebiet darstellt, als überversorgt mit Therapieplätzen bei kassenzugelassenen Psychotherapeuten. Laut Kassenärztlicher Vereinigung (KV) wird der Bedarf mit einem Versorgungsgrad von derzeit 155 Prozent mehr als gedeckt. Angesprochen auf die Lage in Harburg, verweist man bei der KV Hamburg darauf, dass viele Patienten ohnehin weitere Wege für den Therapeuten ihres Vertrauens in Kauf nehmen würden, oft über Stadtteil- und Bezirksgrenzen hinweg – und dass deshalb eine „kleinräumige Betrachtung, etwa auf Bezirksebene, die Versorgungsrealität nicht adäquat“ abbilde.

Für viele Betroffene in Harburg geht es jedoch nicht darum, sich den besten Therapeuten auszusuchen, sondern darum, überhaupt irgendwo eine Zusage zu bekommen. Wer einmal einen Therapieplatz ergattert hat, nimmt häufig in Kauf, dass es auf menschlicher Ebene nicht passt: „Viele gehen zu einem Therapeuten, bei dem sie ein schlechtes Gefühl haben“, sagt Malte Johannsen, der stellvertretende Geschäftsführer vom Verein für psychosoziale Hilfe Harburg Der Hafen. Mit gravierenden Konsequenzen für den Erfolg der Therapie: „Viele können sich dann gar nicht öffnen.“

Der Grund für den Mangel an Therapieplätzen, der nicht nur in Harburg, sondern auch in vielen anderen Gebieten der Bundesrepublik besteht, ist ein struktureller. Der Bedarfsplanung liegen Zahlenspiele zugrunde, die mit der Realität häufig wenig gemein haben. Wie viele Psychotherapeuten eine Kassenzulassung erhalten, hat der Gemeinsame Bundesausschuss im Jahr 1999 festgelegt. Das Soll wurde daran bemessen, wie viele Therapeuten zu diesem Zeitpunkt durchschnittlich tätig waren – und nicht daran, welcher Bedarf bestehen könnte. Auch das damals stark unterversorgte Ostdeutschland wurde einbezogen. Seither gab es nur geringfügige Anpassungen.

Nicht nur in Harburg, auch in anderen Hamburger Stadtteilen müssen psychisch Erkrankte zum Teil mehrere Monate auf ein Erstgespräch und einen anschließenden Therapieplatz warten. Die Therapeutendichte ist nördlich der Elbe jedoch meist höher – womöglich auch, weil entsprechende Stadtteile aus Sicht der Psychotherapeuten ertragreicher sind. „Es gibt hier wenig Privatpatienten“, sagt die in Harburg ansässige Psychotherapeutin Edith Kerbusk-Westerbarkey. Auch die privat tätige Therapeutin Danielle Reuber-Linder glaubt, dass der Bezirk für viele Kollegen wenig attraktiv ist: „Es ist ein sozial schwacher Stadtteil, der bei manchen einen gewissen Ruf hat.“ Erschwerend hinzu kommt, dass hiesige Therapeuten auch Menschen betreuen, die gar nicht aus Harburg kommen. „In Harburg müssen wir auch Menschen aus der Nordheide mitversorgen, weil die Therapeutendichte dort noch geringer ist“, sagt Kerbusk-Westerbarkey.

Der Mangel an Therapieplätzen ist nicht nur für die Betroffenen schwierig. Auch die Therapeuten leiden häufig mit. Sie würden gerne einen Platz anbieten, hören die Not der Menschen, aber können ihnen nicht helfen. „Man muss permanent Patienten frustrieren“, sagt Kerbusk-Westerbarkey. Auch eine andere Therapeutin tut sich schwer damit, Patienten abzuweisen: „Vielen geht es sehr schlecht, und wir hoffen, dass sie sich zumindest an eine Beratungsstelle wenden und die Krise überleben.“

Wer keinen Therapieplatz findet, kann Hilfsangebote wie die von Der Hafen in Harburg in Anspruch nehmen. Dort können sich Betroffene etwa über alternative Möglichkeiten informieren. In akuten Krisen ist auch ein Klinikaufenthalt denkbar, aber auch hier sind Plätze Mangelware. „Mir hat man am Telefon gesagt: ‚Solange Sie sich nicht die Pulsadern aufschneiden, nehmen wir Sie hier nicht auf‘“, erzählt Tanja Salkowski.

Wer keinen Platz bei einem kassenzugelassenen Psychotherapeuten findet, kann von seiner Krankenkasse auch eine Behandlung in Kostenerstattung bei einem approbierten privaten Psychotherapeuten verlangen – zumindest theoretisch. Denn nach Angaben vieler Psychotherapeuten mauern die Kassen. „Fast alle Kassen lehnen gerade alles rigoros ab“, sagte Malte Johannsen von Der Hafen. Danielle Reuber-Linder ist als private Psychotherapeutin teilweise in Kostenerstattung tätig. Auch sie schildert, dass die Krankenkassen derzeit alle Anträge ablehnen. „Oft erhalten wir Formbriefe, wo scheinbar gar nicht auf den Einzelfall eingegangen wird.“ Die Argumente der Kassen seien zum Teil sachlich unzutreffend. Auch andere Therapeuten klagen, dass die Kassen seit der Psychotherapie-Reform im vergangenen Jahr Anträge auf Kostenerstattung reihenweise ablehnen.

Bei Tanja Salkowski hat es Jahre gedauert, bis sie einen Therapieplatz gefunden hat. Viele Betroffenen geraten durch die erfolglose Suche noch tiefer in die Abwärtsspirale. „Nicht wenige geben dann auf“, sagt Malte Johannsen. Salkowski findet: „Die Tortur der Therapieplatzsuche ist ein Spiel mit dem Leben und Tod von Menschen.“