Hamburg. Vor einem Jahr bezogen die ersten Menschen die Folgeunterkunft Am Röhricht. Viele holen die Schrecken der Vergangenheit jetzt ein.
Der eingeschlagene Weg ist der richtige. Das zeigt der Blick zurück: Vor einem Jahr, am 22. Dezember, bezogen die ersten Geflüchteten die damals frisch fertiggestelltem Pavillonhäuser der Folgeunterkunft Am Röhricht 19 (früher Ascheland II), betrieben vom DRK-Kreisverband Hamburg-Harburg und geleitet von Michael Wedler. Seine wesentliche Erkenntnis aus den Erfahrungen der vergangenen Monate: „Bisher ist unser Konzept aufgegangen.“ Die zweite, nicht weniger tiefe Erkenntnis: Der Weg zur Integration der Geflüchteten ist noch lang. Die Anbindung an einheimische Strukturen, sagt Wedler, die habe noch nicht stattgefunden.
Seit Jahresanfang wird das Dorf mit 25 Wohnhäusern durchgängig von rund 620 Menschen bewohnt und ist so etwas wie ein Abbild der großen Welt im Kleinen: Menschen vor allem aus Syrien (gut 200), Afghanistan (180), Irak (160), Eritrea (40) und Iran (20) leben hier zusammen. Da gibt es vieles, das sie trennt – angefangen von der Sprache, der sozialen Herkunft bis hin zur Religion. Wedler erzählt von einem 40 Jahre alten Mann, der noch nie eine Schule besucht hat und einer jungen Frau, die nur ein paar Häuser weiter wohnt und Atomphysikerin ist. Doch selbst diese zwei verbindet etwas: die Hoffnung auf eine neues Leben in Deutschland. „Wir wollen den Menschen hier all das an die Hand geben, was sie brauchen, um in Hamburg oder anderswo auf eigenen Füßen stehen zu können“, hatte Wedler gesagt, als die ersten Bewohner damals gerade eingezogen waren.
Seither ist viel geschehen. 110 Geflüchtete haben das Dorf inzwischen schon wieder verlassen: ein Drittel von ihnen, weil sie eine eigene Wohnung oder Bleibe bei Verwandten gefunden haben, andere wurden abgeschoben oder mussten umziehen, weil sie sich partout nicht einfügen wollten in die Gemeinschaft Am Röhricht. Und ein kleiner Teil sei „unbekannt verzogen“, sagt Michael Wedler: verschwunden auf Nimmerwiedersehen.
Es hat sich ein Kreis von 50 bis 60 Ehrenamtliche der Initiative Willkommen in Süderelbe etabliert, ohne die alle die Angebote von Sprach- bis zu Nähkursen nicht denkbar wären, die den Alltag der Menschen hier (gut 230 sind jünger als 18 Jahre) bereichern.
Es habe sich aber auch gezeigt, dass manche Hoffnungen, die Wedler und sein Team mit den Aufgaben in der Folgeunterkunft verknüpften, naiv waren. Sie alle – Wedler selbst, aber auch der Rest des insgesamt 14köpfigen Teams – hatten zuvor in Erstaufnahmen gearbeitet. Und zwar in einem Modus, den Wedler rückblickend als Akutlevel bezeichnet. Mit dem Wechsel in die Folgeunterkunft hätten sie die Hoffnung verknüpft, dass sich die Situation für die Menschen beruhigt. In gewisser Weise stimme das auch. Doch die Kehrseite ist: „Jetzt kommen sie runter und nehmen überhaupt erst wahr, wie schwierig ihre Lage ist und wieviel Zeit es braucht, die Sprache zu lernen oder eine Wohnung und Arbeit zu finden.“ Der Bedarf an Beratung sei zwar quantitativ weniger geworden, dafür aber viel intensiver und vielschichtiger. Es gehe darum, jetzt Programme zu entwickeln, die längerfristig wirken.
Dazu gehört, dass noch in diesem Monat eine intensive Befragung der Bewohner vorgenommen werden soll – nicht um sie auszuspionieren, sondern um ihnen besser helfen zu können. „Wir möchten die Menschen noch intensiver kennenlernen, um besser mit ihnen arbeiten zu können“, sagt Wedler. Es gehe darum, die Beratungs- und Hilfsangebote passgenau anzugleichen.
Und auch das hat sich gezeigt: Viele der Bewohner werden jetzt von zurückliegenden traumatischen Erlebnissen eingeholt. Auf einmal kommt hoch, was sie durchgemacht und was sie alles verloren und zurückgelassen haben. Ihnen in dieser Hinsicht zu helfen, ist kaum möglich: „Das Regelsystem reicht nicht aus, es ist überfordert.“ Nicht zuletzt, weil sich unüberwindliche Sprachbarrieren auftun.
In anderen Bereich ist schon viel erreicht. Unterstützt und begleitet von Plan International ist das Thema Gewalt- und Kinderschutz angegangen worden, mit dem Ziel, mit allen Beteiligten einen Konsens zu vereinbaren: Gewalt wird nicht toleriert! Das ist vielleicht überhaupt der größte Erfolg: dass es in den vergangenen Monaten nie zu größeren Auseinandersetzungen gekommen ist. Die Streitigkeiten, die es gab, traten meist im familiären Bereich auf. Besonders froh ist Wedler, dass es gelungen ist, einen Bewohnerrat zu installieren. Den treibt vor allem um, dass manche der Dorfbewohner ihren Müll einfach vor der Haustür auftürmen. Das soll sich ändern, vor allem aus Sorge um die Außenwahrnehmung. Beeindruckt hat Wedler auch, dass in diesem Gremium ein Austausch begonnen hat – etwa über die eigene Herkunft und Kultur.
Ein solcher Austausch wird auch in anderen Bereichen gepflegt – zum Beispiel zwischen den Ehrenamtlichen der Initiative Willkommen in Süderelbe und den Dorfbewohnern, die sich regelmäßig in der Fahrradwerkstatt treffen, um gemeinsam Zweiräder – gespendete oder die eigenen – zu reparieren. Einer der Organisatoren ist Michael Ramm (62). Warum er Woche für Woche herkommt? Seine Antwort ist so simpel wie umfassend: „Ich habe alles, die Menschen hier nichts.“