Viele Arbeitnehmer sind täglich beruflich unterwegs. Was sie auf ihren Touren erleben, erzählen sie in der Serie „Auf Achse“. Heute am Steuer: Jens Stegmann vom „Blindenmobil“.

Manchmal, wenn Helene Bendikowski einen Arzttermin hat, zu einem Amtsbesuch in einen fremden Stadtteil fahren muss oder ein paar Bankgeschäfte erledigen will, denkt die Eißendorferin daran, wie es wäre, wenn sie noch sehen könnte. Sie stellt sich vor, wie sie ihre Handtasche nimmt, sicher die Straße überquert und in den Bus steigt. Wie sie die Treppe zum Wartezimmer hinaufläuft, den Patientenbogen ausfüllt und der Ärztin in die Hand drückt. Alles wäre so einfach, wenn da nicht die Krankheit wäre, die ihr das Augenlicht fast genommen hat.

Manchmal, wenn Jens Stegmann Helene Bendikowski ins Wartezimmer einer Praxis begleitet, denkt er darüber nach, wie es wäre, blind zu sein. Er schließt die Augen und stellt sich vor, wie er sich zur Ausgangstür tastet, Schritt für Schritt die Stufen hinuntersteigt und plötzlich auf einem Gehweg steht, den er noch nie gesehen hat. An einer Straße weit weg von Zuhause. Alles wäre furchtbar kompliziert, wenn er nicht sehen könnte.

Los geht's: Die stark sehbehinderte Helene Bendikowski wird vom Fahrer des Blindenmobils, Jens Stegmann, aus ihrer Wohnung im Seniorenheim abgeholt
Los geht's: Die stark sehbehinderte Helene Bendikowski wird vom Fahrer des Blindenmobils, Jens Stegmann, aus ihrer Wohnung im Seniorenheim abgeholt © HA | Hanna Kastendieck

„Ohne mein Sehvermögen wäre ich komplett hilflos“, sagt Jens Stegmann. „Ohne Herrn Stegmann wäre ich komplett hilflos“, sagt Helene Bendikowski. Die alte Dame ist froh, dass sie einen wie ihn gefunden hat. Einen, der da ist, wenn sie Hilfe braucht. Der sie begleitet und unterstützt. Und Jens Stegmann ist froh, dass er gebraucht wird. Dass er eine Aufgabe hat, die Sinn macht. Und nicht arbeitslos zuhause rumsitzen muss. „Ich bin Blindenhund zweiter Klasse“, sagt er. „Das ist ein wunderbarer Job.“

Jens Stegmann ist 57 Jahre alt. Seit drei Jahren ist er für die Menschen mit Sehbehinderung in Hamburg auf Achse. Als Fahrer des „Blindenmobils“ begleitet er die Betroffenen zu Praxen und Ämtern, hilft beim Ausfüllen von Formularen, Unterzeichnen von Dokumenten oder dem Zurechtfinden in fremden Gebäuden. Das Angebot kommt vom Verein Blindenfreunde e.V. Dabei handelt es sich um ein Fahr- und Begleitservice der ganz besonderen Art. Blinde und hochgradig sehgeschädigte Menschen werden nicht nur von A nach B gefahren, sondern auch in nichtalltäglichen Situationen unterstützt.

Mit diesem deutschlandweit bisher einmaligen kostenlosen Fahr- und Begleitservice setzen die Blindenfreunde dort an, wo Routine aufhört und Unbekanntes anfängt. Auf diese Weise soll eine Versorgungslücke bei der Betreuung blinder und hochgradig sehgeschädigter Menschen geschlossen werden. In Berlin, Köln, Hannover und Stuttgart, im Rhein-Main- und Ruhrgebiet sowie in Hamburg ist das Blindenmobil bereits im Einsatz.

Während der Fahrt wird sich unterhalten, denn es geht beim Blindenmobil auch darum, nah am Menschen zu sein
Während der Fahrt wird sich unterhalten, denn es geht beim Blindenmobil auch darum, nah am Menschen zu sein © HA | Hanna Kastendieck

Täglich außer am Wochenende ist Jens Stegmann für die Blinden in der Hansestadt unterwegs. Zwei bis vier Touren im ganzen Stadtgebiet sind es täglich. Regelmäßig führt in sein Auftragsbuch auch nach Harburg. Dann zum Beispiel, wenn Helene Bendikowski anruft. Frau Bendikowski ist eine seiner Stammkundinnen. Die 88-Jährige wohnt in der katholischen Seniorenwohnanlage St. Vinzenz am Lichtenauerweg. Aufgrund einer Augenerkrankung hat sie nur noch eine Sehkraft von knapp drei Prozent. „Zu Hause komme ich mit geschlossenen Augen zurecht“, sagt sie, „aber wenn ich raus in die Stadt muss, sehe ich schwarz.“ Um so dankbarer ist sie für den Augenblick der Hilfsbereitschaft, den Jens Stegmann ihr schenkt.

Manchmal ist es nur eine Tour zum Arzt nach Harburg, manchmal eine Fahrt zur Therapie nach Winterhude. Heute geht es nach St. Georg ins Erzbistum. „Die katholische Kirche ist mein Vermieter“, sagt sie. „Ich habe ein paar Fragen, die ich klären möchte.“ Allein hätte sie diesen Weg nicht gewagt. Aber mit Jens Stegmann an ihrer Seite fühlt sie sich sicher.

Vier bis fünf Personen passen in das Blindenmobil, das täglich in Hamburg unterwegs ist
Vier bis fünf Personen passen in das Blindenmobil, das täglich in Hamburg unterwegs ist © HA | Hanna Kastendieck

Helene Bendikowski ist eine von 150 Frauen und Männern, die Jens Stegmann auf seiner Kontaktliste vom Verein Blindenfreunde e.V. hat. „Der Service richtet sich ausschließlich an hochgradig sehbehinderte oder blinde Menschen“, erklärt der Fahrer. „Die meisten von ihnen haben eine Sehkraft von unter drei Prozent.“ So wie Frau S., die er von Osdorf nach Blankenese zum Rheumatologen fährt oder die 96-jährige Olga, die er regelmäßig zu Arztbesuchen begleitet. Seit ein paar Monaten gehört auch Herr B. dazu, der regelmäßig nach Billstedt zur Therapie gebracht werden muss.

„Sein Schicksal bewegt mich besonders“, sagt Jens Stegmann. „Weil es mir bewusst macht, wie plötzlich man auf Hilfe angewiesen sein kann.“ Herr B. ist etwa so alt wie sein Fahrer. Innerhalb von sechs Monaten hat er sein Augenlicht verloren. Seitdem braucht er Hilfe. Schnelle, unbürokratische Hilfe. „Genau darum geht es uns“, sagt Jens Stegmann. „Wir wollen es den Menschen so leicht wie möglich machen.“ Die Fahrgäste können ihn anrufen, jederzeit. Ganz gleich, wohin die Fahrt geht, wie lang der Termin dauert, Jens Stegmann nimmt sich Zeit. Er ist von Anfang bis Ende dabei.

Auch das gehört zum Job: Gepäck ausladen oder wie hier, einen Gehwagen aufklappen
Auch das gehört zum Job: Gepäck ausladen oder wie hier, einen Gehwagen aufklappen © HA | Hanna Kastendieck

Zehn Euro beträgt sein Stundenlohn

Der Service ist für die Nutzer kostenfrei. Spenden für den Verein sind erwünscht, jedoch keine Pflicht. Beim Transport gilt das Vier-Augen-Prinzip. „Ich entscheide, ob der Fahrgast so sehschwach ist, dass er den Dienst des Blindenmobils in Anspruch nehmen darf“, sagt Jens Stegmann. Es sei eine Sache des Vertrauens. „In all den Jahren hat mir noch nie ein Fahrgast etwas vorgespielt.“ Das Gros der Fahrgäste ist weit über 70. Oft sind sie alleinstehend. Und dankbar für jede Unterstützung. Aber auch bei den Jüngeren hat sich das Angebot der Blindenfreunde rumgesprochen. Stegmann fährt sie zu Praktika oder Bewerbungsgesprächen, begleitet sie zum Versorgungsamt und hilft beim Ausfüllen der Unterlagen. Manchmal beginnt sein Dienst um 8 Uhr und endet um 18 Uhr. Manchmal geht es quer durch die Stadt, manchmal sind es nur ein paar Kilometer.

Zehn Euro beträgt sein Stundenlohn. Zu wenig zum Leben. An guten Tagen ist Jens Stegmann vier, fünf Stunden unterwegs. An schlechten bleibt das Auto in der Garage stehen. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Weil sich Stegmann aber nicht beim Amt anstellen will, hat er sich einen Zweitjob gesucht, arbeitet an den Wochenenden in einer Eckkneipe.

Er hätte mehr erreichen können, das sagt er selbst. Aber irgendwie hat er nie lange durchgehalten. Nach der mittleren Reife, macht er eine Ausbildung zum Autoelektroniker. Er jobbt bei der Post, holt nebenbei das Abitur nach, beginnt ein Studium, bricht es nach acht Semestern ab, eröffnet mit einem Kumpel eine Kneipe im Grindelviertel. Als die Miete angehoben wird, zieht er mit dem Lokal um. Der Laden geht insolvent. Jens Stegmann meldet sich arbeitslos, jobbt als Straßenkehrer, lässt sich im IT-Bereich fortbilden. Er hat keinen Plan, wie es weitergehen soll. Auf Druck der ARGE schreibt er schließlich 20 Bewerbungen als Fahrer. Auch der Verein Blindenfreunde ist unter den Adressaten.

Im Oktober 2014 hat er sein Bewerbungsgespräch. Einen Monat später hält er den Autoschlüssel in der Hand und eine Liste der Fahrgäste. Er ruft sie alle an, sagt ihnen, dass er der neue Fahrer sei. Seitdem hat er eine Aufgabe, die ihn erfüllt. „Ich bin dankbar, dass ich die Arbeit als Fahrer habe“, sagt er. „Weil sie mich zwingt, jeden Morgen aufzustehen. Und weil sie meinem Leben einen Sinn gibt.“

Start der Tour: Die katholische Seniorenwohnanlage St. Vinzenz in Eißendorf. Von dort geht es nach St. Georg
Start der Tour: Die katholische Seniorenwohnanlage St. Vinzenz in Eißendorf. Von dort geht es nach St. Georg © HA | Hanna Kastendieck

Seine Fahrgäste sind ihmans Herz gewachsen

Die Fahrgäste sind ihm ans Herz gewachsen. „Wenn ich von einem mal ein paar Wochen nichts höre, mache ich mir schon Sorgen“, sagt er. Und er hat ein Auge auf sie. Als Frau Bendikowksi neulich nach einem Arzttermin in Winterhude plötzlich nicht mehr auffindbar war, hat er die ganze Nachbarschaft alarmiert und schließlich sogar bei der Polizei angerufen. Stunden später erreichte er die alte Dame in ihrer Harburger Wohnung. Wie sie dorthin gekommen ist, wusste sie selbst nicht mehr.

Es sind gute Momente, wenn Jens Stegmann mit seinen blinden Passagieren unterwegs sind. Weniger erfreulich aber sind die Reaktionen im Straßenverkehr. „Um den Fahrgästen soviel Sicherheit wie möglich zu geben, vermeide ich abrupte Manöver am Steuer“, sagt Stegmann. „Ich fahre vorsichtig und manchmal lieber etwas langsamer. Das verärgert dann doch manchen Verkehrsteilnehmer.“ Mehr Rücksichtnahme im Straßenverkehr, das wäre schön, sagt er. Mehr Verständnis, weniger Aggression. Und das Vermögen, sich einzufühlen. „Ich rate den Menschen, einfach mal die Augen zu schließen und spüren, wie hilflos man dann ist“, sagt er. „Das schärft den Blick fürs Wesentliche.“

Blindenfreunde

Die Blindenfreunde sind für blinde und hochgradig sehgeschädigte Menschen da, die Begleitung in unterschiedlichster Form benötigen.

Gegründet wurde der Verein im Jahr 1869. Damit gehört er zu den ältesten privaten Fürsorgevereinen in Deutschland.

Bereits 1862 gründete der Verein Blinden-Bücherei, es folgten der Bau von Blindenwohnungen und Erholungsheimen.

Das erste Blindenmobil startete am 6. Dezember in Berlin zu seiner Jungfernfahrt und begründet damit den deutschlandweit ersten kostenlosen Blindenfahrdienst. Seit 2011 gibt es das Angebot auch in Hamburg.

Blinde und Sehbehinderte

Hochgradig sehbehindert ist ein Mensch, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 5 % von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt.

Als blind gilt ein Mensch, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 2 % von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt.

Konkrete Zahlen darüber, wie viele Blinde in Deutschland leben, gibt es nicht. Nach Schätzungen sind es etwa 150.000 blinde und 500.000 sehbehinderte Menschen.