Hamburg. In der Familie des Mädchens gab es schon lange Gewalt. Behörde in Harburg war eingeschaltet, sah aber keinen Grund zur Inobhutnahme.

Das Grauen ist ganz plötzlich in den Wiedauweg gekommen – und jeder versucht anders, es zu verarbeiten. Er würde Sohail A. umbringen, wenn er ihn sehe, sagt ein Nachbar. Ein Polizeisprecher gibt vor dem Plattenbau mit trüben Augen Interviews. Eine Bäckereiverkäuferin sagt die Worte, die so vielen in den Kopf schießen: „Mein Gott, wie traurig.“

Die Schockwelle der Bluttat von Neugraben-Fischbek ist am Dienstag in der ganzen Stadt zu spüren. Sohail A. sei dringend tatverdächtig, seine zweijährige Tochter getötet zu haben, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Nachdem seine Frau Ludna A. nach einem Streit die Polizei holte, um ihren Mann aus der Wohnung zu werfen, fanden die Beamten nur die Leiche ihres Kindes.

Die 32-Jährige erlitt einen schweren Schock. Ihr sechs Jahre alter Sohn überlebte möglicherweise nur, weil sie ihn mit aus der Wohnung genommen hatte. Sohail A. ist auf der Flucht. Mit Hunden suchen die Beamten nach ihm, Zielfahnder haben ein Profil erstellt, seine Verwandten und weitere mögliche Verstecke ermittelt. Gefasst werden konnte Sohail A. noch nicht. "Wir fahnden mit allen Mitteln, die wir haben“, sagte ein Polizeisprecher am Mittwochmorgen. Es gebe aber weiterhin keine Anhaltspunkte, wo der 33-Jährige sein könnte.

Verdächtiger ein Tyrann und hochaggressiv

Ständig sei es laut bei der Familie A. geworden, der Vater ein Tyrann und hochaggressiv, sagen Nachbarn. Nicht einmal „Guten Morgen“ habe seine Frau sagen dürfen, er habe sie abschirmen und für sich haben wollen. Was bei Polizei und Behörden über den Mann bekannt ist, erzählt die Geschichte einer gescheiterten, frustrierten Existenz – und erneut steht nach dem gewaltsamen Tod eines Kindes in Hamburg auch die Rolle des Jugendamts im Fokus.

Rückblick: Im Jahr 2011 kommt Sohail A. aus Pakistan nach Deutschland, zunächst lebt er in Hessen. Ein Asylantrag wird abgelehnt. Abgeschoben werden kann Sohail A. jedoch nicht – er gibt an, seinen Pass verloren zu haben.

Sohail A.s Asylantrag wurde abgelehnt

Erst in Deutschland lernt der 33-Jährige offenbar seine Frau kennen, 2014 heiraten sie, ein Jahr später wird ihre Tochter geboren. Sohail A. habe sich zeitweise bemüht gezeigt, zu einem neuen Pass und einem regulären Leben zu kommen, heißt es in Behördenkreisen. Im Gegenzug erhält er eine Arbeitserlaubnis, verdingt sich hier und dort als Aushilfe, meist in der Gastronomie.

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Das Paar findet nach Unterkünften die eigene Wohnung am Wiedauweg. Es ist eine unstetige, wenig gemütliche Nachbarschaft. Aber ein eigenes Zuhause. Sohail A. beantragt eine Aufenthaltserlaubnis, plötzlich hat er wieder seinen pakistanischen Pass zum Vorzeigen. Trotz der Kinder wird auch dieser Antrag abgelehnt. Der 33-Jährige legt Widerspruch ein, über den bis zum Tod seiner Tochter nicht mehr entschieden wird.

Familie wurde schon seit 2016 betreut

In der Familie herrscht schon lange vor der Tat am Montag Gewalt vor. Im Jahr 2016 erzählt Ludna A. ihrer Kinderärztin, dass Sohail A. sie geschlagen habe. Auch die Kinder seien vor seinem Zorn nicht sicher. Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) Süderelbe wird eingeschaltet und geht nach dem Prozedere vor: Betreuung durch Sozialpädagogen, zunächst sieben Stunde in der Woche, Hilfeplangespräche und ein Schutzkonzept. Ob Sohail A. auch etwa zu einem Antiaggressionstraining verpflichtet wurde, ist noch unklar.

Am 2. März dieses Jahres muss die Polizei nach einem Streit zu dem Mehrfamilienhaus kommen. Sohail A. hat seine Frau erneut geschlagen, auch ihren sechsjährigen Sohn, dessen Stiefvater er ist, bedroht. Direkt nach dem Streit wird der Mann aus dem Haus geworfen, Ludna A. hat zehn Tage Zeit, eine einstweilige Verfügung gegen ihren Mann zu erwirken. Sie lässt die Frist verstreichen. Sohail A. zieht wieder in die Wohnung ein. „Es ist leider in den allermeisten Fällen so, dass die Frauen ihre gewalttätigen Männer zurücknehmen“, sagt ein erfahrener Polizist.

Die Polizei veranlasste eine Gefährderansprache

Das Jugendamt dehnt die Betreuung der Familie nach dem Vorfall auf zehn Stunden pro Woche aus. Konkrete Anzeichen auf eine akute Gefahr für das Leben der Kinder habe es trotz der ersten Hinweise von Ludna A. nicht gegeben, sagt eine Sprecherin des Bezirksamts Harburg auf Anfrage. „Nach jetzigem Stand bestand keine Grundlage, eines oder beide Kinder in Obhut zu nehmen.“ Der Fall werde intern aber nun genau aufgearbeitet.

Im Mai kommt es abermals zu einem Zwischenfall, als Sohail A. seinen Schwager in der Wohnung massiv bedroht. Der erstattete Anzeige. Die Polizei leitete ein Verfahren ein und führte gegen Sohail A. eine sogenannte Gefährderansprache durch. Wegen anderer Straftaten wurde Sohail A. in seiner Zeit in Deutschland nicht verfolgt.

Die Fahndung läuft auch Hochtouren

Was könnte Sohail A. dazu getrieben haben, sein eigenes Kind zu töten? Seine Frau hielt es offenbar selbst nicht für möglich, dass er ihrem gemeinsamen Kind schaden könnte. Während sie ihren Sohn am Montag mit aus der Wohnung nimmt und zwischenzeitlich zu Verwandten bringt, lässt sie die Tochter mit Sohail A. zurück.

Die hinzugerufenen Polizisten gehen später allein in die Wohnung, sie trifft der Anblick hart. Seelsorger hätten auch die Beamten später betreut, sagt der Polizeisprecher, es gehe ihnen aber „angesichts der Umstände gut“. Mit einem 3-D-Laserscanner vermessen die Spezialisten der Polizei den Tatort. Die Fahndung nach Sohail A. läuft am späten Dienstagabend weiter auf Hochtouren. Auf eine Öffentlichkeitsfahndung wurde bislang verzichtet – ein Indiz, dass die Zielfahnder dicht auf seinen Fersen sein könnten.

Am Dienstagnachmittag füllt es sich wieder am Wiedauweg, Wildfremde kommen, ihre Art der Trauer legen sie vor dem Plattenbau nieder. Es sind Engelsfiguren, Blumen, Teddys und Kerzen.