Harburg. Pro Jahr suchen 8000 Menschen Hilfe in psychiatrischer Ambulanz des Asklepios Klinikums, achtmal so viele wie früher.
Immer mehr Menschen haben seelische Probleme. Etwa jeder fünfte Hamburger, der sich krankmeldet, hat ein psychisches Problem. Ob Angststörung, Burnout oder Depression – die seelischen Leiden lösen persönliche Krisen aus. „Vor allem in Zeiten großer Veränderungen verlieren immer mehr Menschen ihr seelisches Gleichgewicht und werden psychisch krank“, sagt Dr. Hans-Peter Unger, seit gut 20 Jahren Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit des Asklepios Klinikums Harburg.
Die Entwicklung verläuft rasant. Kamen früher pro Quartal 250 Patienten in die Intitutsambulanz, sind es heute 2000. Die Zahl der Betten in der stationären Abteilung stieg von 108 auf 150 und die Zahl der Plätze in den Tageskliniken hat sich verdreifacht – auf 90.
Dass die seelische Not der Menschen auch im Hamburger Süden offenbar wächst, hat mehrere Gründe. Der Chefarzt und Nicole Plinz, die therapeutische Leiterin der drei zum Zentrum gehörenden Tageskliniken, machen dafür unter anderem die zunehmende Schnelllebigkeit und Verdichtung verantwortlich. Die Arbeitsbelastung in nahezu allen Branchen wächst und damit der Leistungsdruck.
War das gesellschaftliche Leben seit dem Zweiten Weltkrieg bislang von Aufstieg geprägt – „Es ging immer aufwärts“, so Hans-Peter Unger –, muss heute schon kämpfen, wer wenigstens den Status quo erhalten will. Nach dem Motto: Wer nicht strampelt, rutscht ab. Parallel dazu prasselt eine Vielzahl von Informationen auf die Menschen ein – auf allen möglichen Kanäle, vom Internet bis zum Fernsehen.
Das Problem, das daraus oft erwächst, beschreibt Nicole Plinz: „Vor allem jüngere Menschen verinnerlichen Bilder und Vorbilder, die vorgeben: So muss ich sein.“ Der daraus abgeleitete Anspruch sei dann so hoch, dass er gar nicht zu erfüllen sei. Die heile Welt der Bilder auf Instagram, Facebook und Co ist in etwa so real wie Freundschaft, die nur in sozialen Netzwerken existieren.
„Da haben die Menschen Follower oder 500 Freunde auf Facebook“, sagt Nicole Plinz. „Aber wen können sie wirklich anrufen, wenn es ihnen schlecht geht?“ Zur Realität vieler gehöre heute außerdem, dass sich familiäre Strukturen mindestens verändert, wenn nicht gar aufgelöst haben.
Wer seine Belastungsgrenzen permanent überschreitet, weil er selbst oder andere die Latte zu hoch legen, überfordert sich. Das innere Gleichgewicht gerät ins Trudeln: Ob Spaß an der Arbeit oder mit Familie und Freunden – irgendwann ist davon nichts mehr übrig. Was wächst, ist das Gefühl, auf ganzer Linie gescheitert zu sein – ein Burn-out als Notpause. „Das ist wie ein Motor, der sich abschaltet“, sagt Unger. Er spricht von Risikozustand und schwerer Erschöpfung, die zu einer Depressionen führen kann.
Wenn die Seele leidet, schlägt der Körper Alarm. Zu den Symptomen gehören wSchwindel, Schlafstörungen oder auch Bluthochdruck. Früher habe man sich weitgehend auf die Behandlung solcher Symptome beschränkt, so Unger. Patienten erzählten vielleicht von chronischen Rückenschmerzen und wurden deshalb krankgeschrieben. Die dahinter stehende Depression aber kam gar nicht erst zur Sprache.
Ganz anders heute. Patienten sind eher bereit, über Gefühle und Ängste zu sprechen. Sie benennen ihre Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit. Entsprechend hat sich der Behandlungsansatz geändert. „Heute geht es uns darum, die innere Haltung, die Einstellung der Betroffenen zu ändern“, sagt Unger. Was das bedeutet, beschreibt er mit einem Zitat des Naturphilosophen Aristoteles: „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“ Die moderne Psychologie hat dafür den Begriff Resilienz geprägt: die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen. Es gilt, die Patienten so zu stärken, dass sie wieder eigene Entscheidungen treffen und sich für ihre Wünsche einsetzen können: „Auf Augenhöhe“, wie Unger betont.
Das zu erreichen, dafür setzt sich in den Tageskliniken von Asklepios Harburg ein multiprofessionelles Team ein. Rund 60 Mitarbeiter zählt es, von Psychotherapeuten, Psychiatern, Achtsamkeits- und Ergotherapeuten bis hin zu Pflegekräften. Sie versuchen, die Patienten in Gesprächen, aber auch mit Hilfe von Yoga, Qi Gong oder Kunsttherapie soweit zu bringen, dass sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen – ohne Angst und das Gefühl der permanenter Überforderung.
Das geht nicht immer ohne Medikamente. Doch die Tatsache, dass die Zahl der Suizide seit Jahren rückläufig ist, hänge, so Unger, nicht maßgeblich damit zusammen, dass die Medikamente weiter entwickelt wurden. Vielmehr sei die Stigmatisierung heute geringer. „Hilfe wird eher angenommen, und die Angebote sind besser“, sagt Unger. „Das ist ein großer Erfolg.“