Schwere Vorwürfe: Einsatzhundertschaften standen bereit, aber durften bei G20 nicht helfen – Polizeivize weist die Vorwürfe nachdrücklich zurück

Hat die Polizeidirektion Lüneburg (PD) während des G20-Gipfels ihre Hamburger Kollegen im Stich gelassen? Indem sie ihnen die Unterstützung verweigerte und zu wenig Einsatzkräfte in die Hansestadt geschickt hat? Genau das wirft ein Angehöriger des gehobenen Dienstes dem Vizepräsidenten der Polizeidirektion, Matthias Oltersdorf in einem anonymen Brief vor, der dem Abendblatt vorliegt. Der Polizeiführer habe sich „am vergangenen Freitag geweigert, den Kollegen in Hamburg dringend benötigte Unterstützung in Form von Einsatzhundertschaften zur Verfügung zu stellen“, heißt es in dem Schreiben. Der Polizeivize Matthias Oltersdorf weist die Vorwürfe zurück.

Rückblick: Als Freitagvormittag in der Elbchaussee Autos in Flammen stehen und Chaoten bereits in der Nacht zuvor über die ganze Stadt verteilt Steine werfen und zündeln, bittet die Hamburger Innenbehörde vor dem Hintergrund friedlicher – und zunehmend eskalierender Proteste – rund um die Elbphilharmonie und die Messehallen andere Bundesländer, mehr Polizisten nach Hamburg zu schicken. Daraufhin werden neue Polizisten eingeflogen – unter anderem aus Mecklenburg-Vorpommern.

Polizisten der Polizeidirektion Lüneburg an der Stadtgrenze zu Hamburg sind nicht dabei. Ganz Niedersachsen habe lediglich einen „zusätzlichen Einsatzzug mit 30 Beamten der Polizeidirektion Oldenburg“ zur Unterstützung nach Hamburg geschickt, so der Vorwurf. Alle übrigen Polizeidirektionen hätten abgewunken und angegeben, sie könnten leider keine zusätzlichen Kräfte schicken, heißt es in dem Brief.

„In meinem mehr als 20 Dienstjahren habe ich noch nie ein solch unsolidarisches und unkollegiales Verhalten erlebt. Dieses Verhalten macht mich fassungslos“, schreibt der anonyme Verfasser, der nach eigenen Angaben als leitender Beamter in die Bewältigung der Einsatzlagen rund um den G20-Gipfel in Hamburg eingebunden gewesen sein soll. „Die Einsatzhundertschaften der PD Lüneburg mit einer Stärke von über 300 Beamten, die innerhalb weniger Stunden einsatz- und abfahrbereit gewesen wären, und eine Anfahrtzeit von 45 bis 90 Minuten nach Hamburg gehabt hätten, wurden nicht zur Unterstützung angeboten.“

Viele Kolleginnen und Kollegen hätten sich „seit Monaten auf einen Einsatz in Hamburg vorbereitet“ und damit gerechnet. „Es mangelte also definitiv nicht an Personal.“ Dass man einsatzbereit auf den Dienststellen „Däumchen drehen müsse“, so der Autor, obwohl keine 30 bis 100 Kilometer entfernt „Polizistinnen und Polizisten bis zur völligen Erschöpfung im Einsatz waren“, habe zu „völligem Unverständnis und maßloser Frustration“ geführt.

Lüneburgs Polizeivizepräsident Matthias Oltersdorf hält dagegen. „Die PD Lüneburg lehnt eine Anforderung aus dem Innenministerium nicht einfach ab“, sagte er dem Abendblatt. „Tatsächlich finden bei so einem Großereignis Vorgespräche und eine gemeinsame Lageerörterung statt.“ Aufgrund der durch die räumliche Nähe zu Hamburg bedingten taktischen Erfordernisse sei es sinnvoll gewesen, die Kräfte aus dem Bereich der PD Lüneburg für zu erwartende eigene Einsatzlagen vorzuhalten.

Aber schon im Vorfeld von G20 habe sich die PD Lüneburg weitgehend herausgehalten, kritisiert der Autor. Da es Anfang Juni keine eigenen Einsatzlagen im Bereich der PD Lüneburg und keine Informationen über Störaktionen gegeben habe, sei ein Stufenkonzept vorgestellt worden, dass für den Zeitraum der Gipfeltage vom 6. bis 9. Juli den Einsatz von so genannten Ekos (Einsatzkommandos) von lediglich vier bis neun Beamten vorsah. Mehr nicht.

„Das Stufenkonzept hatte zum Ziel, abgestuft und lageangepasst agieren zu können“, erklärt Oltersdorf. In der ersten Stufe sei unter anderem vorgesehen gewesen, in jeder Polizeiinspektion Einsatzkommandos vorzuhalten, um eine sofortige Interventionsfähigkeit zu gewährleisten. „Die hier angesprochenen vier bis neun Beamten pro Polizeiinspektion ergeben zusammengefasst eine zusätzlich vorgehalten Personalstärke von über 40 Beamtinnen und Beamten“, betont der Polizeichef.

Berücksichtige man, dass Demonstranten durchaus eine „Kleingruppentaktik“ verfolgten und immer wieder an unterschiedlichen Örtlichkeiten auftauchten – um auch im Wortsinn „Fanale“ zu setzen und dadurch Polizei im Raum außerhalb der Schwerpunkte zu binden, sei es folgerichtig, ausreichend Kräfte auch im Bereich der Polizeidirektion Lüneburg vorzuhalten. „Insbesondere zum Schutz kritischer Infrastrukturen wie Bahngleise, zur Bestreifung der Unterbringungsobjekte der durch Hamburg in unserem Bereich untergebrachten Polizeikräfte und für erforderliche Maßnahmen im Rahmen der Anreise von Störergruppen“, so der Polizeichef.

Dies sei auch geschehen – etwa als zwei Reisebusse mit gewaltbereiten Randalieren auf der A7 aus dem Verkehr gezogen wurden und drei gewaltbereite junge Männer in einem Pkw aus Frankreich im Vorfeld in Gewahrsam genommen wurden. Die A7 und die A1 an einem Wochenende mit viel Reiseverkehr komplett zu kontrollieren, sei aber schlichtweg unmöglich.

Den Vorwurf, die drei Einsatzhundertschaften seien den Hamburgern am Freitag nicht angeboten worden, weist Oltersdorf zurück: „Jede Beamtin und jeder Beamter dieser Hundertschaften ist im Nebenamt in dieser Einheit. Das bedeutet, dass er im Hauptamt möglicherweise im Streifendienst tätig ist und darüber hinaus für besondere Lagen eingesetzt werden kann. Aufgrund der dargestellten Lagebewertung hat das niedersächsische Innenministerium nicht auf die Aufrufeinheiten der PD Lüneburg zurückgegriffen.“ Im Klartext: Das Innenministerum habe entschieden, dass die Einsatzkräfte in der PD Lüneburg verbleiben, nicht er.

Am Sonnabend wurde dann tatsächlich eine Einsatzhundertschaft und die Abteilungsführungsgruppe aufgerufen. Die Einsatzhundertschaft wurde aber nicht den Kollegen in Hamburg zur Unterstützung angeboten, sondern mit einem „völlig sinnfreien Raumschutzauftrag“ im Bereich der PD Lüneburg eingesetzt, so der Vorwurf des anonymen Autors. „Die Lage ist am Freitag so bewertet worden, dass die genannten Einsatzkommandos aufgerufen und im Landkreis Harburg zusammengeführt wurden“, sagt Oltersdorf. Von diesem Zeitpunkt an seien in der PD Lüneburg permanent Kräfte im Einsatz gewesen, am Sonnabend „aufwachsend bis zu 150 Einsatzkräfte“ zeitgleich im Dienst. Der Auftrag Raumschutz – also verstärkte polizeiliche Präsenz – sei taktisch notwendig gewesen. Bei Abruf hätte man Hamburg aus dem Kontingent unterstützt. Oltersdorf: „Wir haben Hamburg nicht im Stich gelassen. Wir standen jederzeit bereit.“