500-seitiges Werk beschreibt das dörfliche Leben in Over und Bullenhausen, wo der Fluss eine Hauptrolle spielt – von der Fischerei bis zum Kampf gegen Hochwasser
Zwischen Harburg und Winsen liegen die Elborte Over und Bullenhausen. Einer geht in den anderen über, und beide haben eine Jahrhunderte alte Siedlungsgeschichte. Der Winsener Hartmut Blecken (70), der zuvor vor allem zur Winsener Elbmarsch und zur Vogtei Neuland gearbeitete hatte, begab sich im März 2014 auf Spurensuche, um eine Chronik der beiden Elbdörfer zu schreiben. Was der akribische Chronist innerhalb von drei Jahren zu Tage förderte, überraschte auch den Auftraggeber Prof. Rolf Wiese, Direktor des Museums Kiekeberg. „Ohne die Unterstützung von bis zu 30 engagierten Ortskundigen und der regelmäßigen Zuarbeit eines harten Kerns von etwa einem Dutzend Leuten, wäre das Buch nicht zustande gekommen“, sagt der Autor.
Am Freitag präsentierte Blecken in Over sein fast 500-seitiges Werk der Öffentlichkeit. Das Buch stellt facettenreich die Entwicklung der beiden Elbdörfer dar, schildert das Leben in der Elbmarsch und klärt viele interessante Fragen.
Woher haben Over und
Bullenhausen ihre Namen?
Over ist das Ufer, der Ort am Ufer der Elbe und der Seeve. Aus dem 15. bis 18. Jahrhundert sind noch Namen (in verschiedenen Schreibweisen) mit dem Zusatz Papen überliefert. Papenover bezeichnete das Ufer des Pfaffen, Priesters, das „Kirchenufer“. Bullenhausen hat seinen Namen wohl nicht vom männlichen Rind. Der Ortsname bestand immer aus -hausen (Ort, Dorf) und dem Zusatz Bullen-, Bollen-, Pollen-. Dieser wurde wahrscheinlich von einem Schiffstyp abgeleitet, der als Bull’n, Boll oder Bolle bezeichnet wurde: ein dickbäuchiges Lastschiff, das einem Ewer sehr ähnlich war und bis zu zehn Tonnen Ladung aufnehmen konnte. Welche Rolle der Schiffstyp in dem Ort spielte, ist unklar. Entweder war er ein oft genutztes Transportmittel oder es wurde ein Exemplar beim frühen Hochwasserschutz versenkt, um eine Deichlücke zu schließen.
Seit wann leben Menschen
in der Gegend?
Abgesehen von sporadischen Besiedlungen, von denen archäologische Funde aus der Jungsteinzeit (5000 bis 2000 v. Chr.) zeugen, wurde der Landstrich ab dem 12. Jahrhundert stärker besiedelt. Über Jahrhunderte stieg die Einwohnerzahl der beiden Orte nur marginal. In Bullenhausen lebten nicht einmal 200 Menschen, in Over 300 bis 400. Im Jahr 1810 hatten beide Dörfer zusammen 594 Einwohner, davon lebten 70 Prozent in Over. In dieser Zeit begannen die Dörfer allmählich zu wachsen.
Wie hat sich die Dorfstruktur über die Jahrhunderte verändert?
Bullenhausen und Over sind typische Marschendörfer. Die Häuser sind wie an einer Perlenkette aufgereiht und standen einstmals beiderseits des niedrigen Deiches. Einige wenige Höfe lagen auf natürlichen sandigen Anhöhen und aufgeschütteten Wurten mehr landeinwärts. Erst viel später kamen querab Straßen hinzu, etwa der Höchtweg in Bullenhausen und Overdamm in Over. Seit jeher wurden Wege und Straßen auf Deichen und Dämmen angelegt. Der schlammige Weg auf dem Elbdeich war oft unpassierbar. 1898 gab es erste Überlegungen, die Straße mit Kies zu befestigen. Anno 1900 wurden in Over die ersten 700 Meter als „Steinschlagbahn“ ausgebaut. Bullenhausen versah die Deichkrone 1906 mit einer gepflasterten Fahrbahn. 1908 baute auch Over seine Straße weiter aus, doch durften Automobile und Krafträder zunächst nicht darauf fahren. (Ausnahmen: Ärzte und Mitarbeiter des Landratsamtes).
Anno 1920 wurden beide Dörfer an das Stromnetz angeschlossen. Seit 1928 kommt die Post aus Harburg, zuvor aus Meckelfeld. Und am 15. Februar 1930 fuhr der erste „Kraftpost“- Autobus als Linienverbindung vom Schützenhof in Over über Bullenhausen nach Harburg (heute HVV-Linie 149).
Seit wann regulieren Menschen den Elbabschnitt?
Der erste Deichbau fand vor 800 bis 900 Jahren statt. Damals herrschte noch eine große Dynamik im Fluss: Sandbänke entstanden oder wurden abgetragen, Ufer abgebrochen. Entsprechend unregelmäßig waren die Tiefen des Fahrwassers. Im 15. Jahrhundert waren die Deiche gerade einmal ein bis eineinhalb Meter hoch. In dieser Zeit legten die Menschen am Nordufer Hand an die Elbe: Sie schnitten die Dove und die Gose-Elbe vom Fluss ab und legten damit zwei der drei Hauptströme der Elbe still. Der übrig gebliebene Hauptstrom verbreiterte und vertiefte sich. Die drei vorgelagerten Inseln Hagolt, Overhaken und Overwerder verschwanden. Ende des 18. Jahrhunderts verstärkte die Stadt Hamburg ihre von einer Sturmflut zerstörten Deiche mit dem Boden der Insel Hagolt. Overhaken wurde nach der Sturmflut von 1962 an Hamburg verkauft und bildet heute das Gebiet um den Hohendeicher Baggersee jenseits des Stroms. Der See wiederum verdankt seine Existenz der Materialentnahme für den Deichbau.
Was passierte bei der schweren Sturmflut im Februar 1962?
Schon im 18. und 19. Jahrhundert überschwemmten Hochwasser (vom oberen Flusslauf) und Sturmfluten (von der Nordsee) großflächig die Ländereien südlich der Elbe. 1814 war die Flutwelle eines Hochwassers besonders dramatisch: Zwischen Harburg und Bleckede standen alle Niederungsgebiete bis zum Geestrand unter Wasser, insgesamt etwa 506 Quadratkilometer. Zu niedrige und steile Deiche mit uneinheitlichem Baumaterial führten auch am 16./17. Februar 1962 zu großflächigen Überschwemmungen, die sich in die Seeve-Niederung bis weit hinter den Bereich des heutigen Rangierbahnhofs Maschen erstreckten. Die Siedlungen Friesenwerder Moor und Groß Moor mussten evakuiert werden. In Bullenhausen und Over verließen Frauen und Kinder die Orte, während die Männer blieben und zu retten versuchten, was zu retten war. Die Deiche der Vogtei Neuland waren höher und hielten der aufbrausenden Elbe stand. Nicht jedoch die im Binnenland gelegenen Achterdeiche – die Vogtei Neuland lief „von hinten“ voll.
Welche Rolle spielten Landwirtschaft, Schifffahrt und Fischerei?
In beiden Wappen der Orte sind Schiffe dargestellt, im Overaner Wappen dazu noch ein Fisch. Die Fischerei war ein wichtiger Erwerbszweig. 1756 gab es in Over 20 und im viel kleineren Bullenhausen elf Elbfischer, die mit Reusen, Treib- und Wurfnetzen sowie mit dem „Aalstecher“ (ein Speer) reichlich Fang machten. Mit zunehmender Wasserverschmutzung nahmen die Fänge drastisch ab. 1957 gab es noch vier Berufsfischer, 1980 wurde die Elbfischerei wegen hoher Schadstoffgehalte des Fangs eingestellt.
Die Schifffahrt auf der Elbe spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Neben diversen Fährverbindungen transportierten motorisierte Ewer aus Over und Bullenhausen Heu aus der Winsener Marsch zu den Tierhaltern nach Hamburg. Die Stadt wurde auf dem Wasserweg mit Obst, Gemüse und Milch versorgt. In Bullenhausen und Over wurde hauptsächlich Obst- und Gemüsebau sowie Viehwirtschaft betrieben, jedoch kaum Ackerbau. Die wenig ertragreichen Moorböden um Groß Moor dienten ausschließlich als Weiden. Das Junkernfeld, eine Wiesenniederung zwischen der Seeve und Over, wollte niemand bewirtschaften – heute blühen dort im April/Mai um die eine Million Schachbrettblumen; es ist wahrscheinlich der größte Bestand dieser Art in Mitteleuropa. Nach dem Krieg gab es auch an der Elbe ein „Höfe-Sterben“. Von einstmals 26 Betrieben sind drei übrig geblieben.
Wer lebt heute in Over und
in Bullenhausen?
Flüchtlinge und Heimatvertriebene waren die ersten Zuzügler der Nachkriegszeit. Sie trugen dazu bei, dass die Einwohnerzahl der beiden Orte um 1970 auf jeweils 800 gestiegen war. Nach und nach entdeckten immer mehr Neubürger die Vorzüge der Orte, die 1972 zusammen mit weiteren Dörfern zur Gemeinde Seevetal vereint wurden. Die bekannteste Zugereiste ist die Volks-schauspielerin Inge Meysel. Sie verstarb am 10. Juli 2004 94-jährig in Bullenhausen. Heute (2015) leben dort 1266 und in Over 1350 Menschen.
Das Buch „Over und Bullenhausen. Dörfer am Deich“ ist für 29,80 Euro im Museum Kiekeberg erhältlich und in der Ortsverwaltung in Bullenhausen, Lührsweg 17, (Di. 14–18.30 Uhr, Do. 8–12 Uhr). Buchhandlungen können es unter ISBN 978-3-935096-59-1 bestellen