Der Chirurg Dr. Manfred Giensch – Mannschaftsmediziner der Olympiareiter – geht in den Ruhestand. Was man so Ruhestand nennt...

Als seine Enkelin Jule im vergangenen Jahr zum Sieg für die „goldene Schärpe“ reitet und damit als beste Nachwuchsreiterin in Deutschland auf dem Podest steht, spürt Manfred Giensch, dass es an der Zeit ist, die Prioritäten in seinem Leben neu zu ordnen. Fast 50 Jahre hat er, der selbst als Nachwuchstalent im Sattel galt und auf eine Profikarriere zugunsten der Medizin verzichtete, als Arzt gewirkt. Jetzt soll die Reiterei noch einmal in seinen Lebensmittelpunkt rücken. Und damit dafür genug Zeit bleibt, zieht sich der 74-Jährige nach 39 Jahren als niedergelassener Arzt endgültig aus seiner Harburger Praxis zurück. Dr. Manfred Giensch geht in den Ruhestand.

„Keine Sorge, ich steige nicht selbst in den Sattel“, sagt er. „Ich werde die Zeit nutzen, um andere zu begleiten.“ Die Anderen, das sind seine beiden Enkeltöchter Jule und Lara Krüger, die beide das Talent ihres Großvaters geerbt haben. Und es sind die Profisportler der Deutschen Reiter-Equipe, die Giensch seit 2006 als Mannschaftsarzt des Deutschen Olympiade-Komitees für Reiterei betreut.

Dass einer wie „Manne“ in den Ruhestand geht, ist für jene, die ihn kennen, kaum vorstellbar. Weil Manfred Giensch Arzt ist, durch und durch, immer und überall. Der 74-Jährige hat seine Tätigkeit nie als Beruf, sondern stets als Berufung verstanden.Und er konnte im Laufe der Jahrzehnte viel in der Branche bewegen.“

So kennen ihn die Kollegen: Dr. Manfred Giensch im OP
So kennen ihn die Kollegen: Dr. Manfred Giensch im OP © HA | privat

Manfred Giensch wächst in Heimfeld auf. Jede freie Minute verbringt er als Schüler auf dem Hockeyplatz. Als ein paar Mitschüler mit dem Reiten beginnen, schließt sich der junge Manfred an. Täglich radelt er in den Stall des Harburger Reitvereins. „Mich hat die Zusammenarbeit mit dem Pferd fasziniert“, sagt er. Mitte der 1950er-Jahre, Manfred ist damals noch keine 15 Jahre alt, bekommt er ein eigenes Pferd. Ein Glücksgriff. „Walussa“, so sein Name, ist ein Genie. Gemeinsam holen sie eine Medaille nach der anderen.

1962 wird Manfred Giensch mit Walussa in den Olympiakader der Military-Reiter für die Spiele 1964 in Tokio aufgenommen. Er ist fast am Ziel. Doch er weiß, dass er tief fallen könnte, sollten die Erfolge ausbleiben. Als sein Vater, der selbst als Chirurg am AK Harburg tätig ist, ihm rät, Medizin zu studieren, trifft er diese Entscheidung: „Ich werde Arzt. Aber ich werde als solcher dem olympischen Reitsport treu bleiben.“

Schon während der Ausbildung hatte er eigene Pferde im Stall

Als Student schließt er sich dem Deutschen akademischen Reiterverband an, wird er zweimal Deutscher Hochschulmeister in den Disziplinen Springen und Dressur. Während seiner Ausbildung zum Arzt für Chirurgie und Unfallchirurgie am AK Harburg und in der Endoklinik Hamburg, hat er stets eigene Pferde im Stall. Und auch für die drei Kinder stehen Ponys bereit. Katinka, die Jüngste, tritt in die Fußstapfen ihres Vaters, steht unzählige Male auf dem Podest. Heute sind es ihre drei Töchter, die fest im Sattel sitzen und von den Erfahrungen ihres Großvaters profitieren.

Doch nicht nur das Talent zum Reiten, sondern auch den Faible fürs Hockeyspielen hat er an die Kinder und Enkelkinder weitergegeben. Tochter Annabell hat als Nationalspielerin der Deutschen Hockeydamen 54 Länderspiele bestritten. Die beiden Töchter eifern der Mutter nach. „Sie sind begabt“, sagt Manfred Giensch. „Genauso wie Max, mein jüngster Enkelsohn.“

Manfred Giensch im Jahr 1962 auf seinem Pferd Walussa. Er war von 1962 bis 1964 Mitglied des Olympiakaders der Military-Reiter.
Manfred Giensch im Jahr 1962 auf seinem Pferd Walussa. Er war von 1962 bis 1964 Mitglied des Olympiakaders der Military-Reiter. © HA | privat

Nicht nur den sportlichen Eifer, auch die Freude an der Medizin hat Manfred Giensch in der Familie weitergegeben. Sohn Florian ist Chirurg und seit 2010 in seiner Praxis tätig. Gegründet wurde diese 1978. „Und zwar nur, weil es im Krankenhaus für mich keine Möglichkeit gab, eine Chefarztstelle zu bekommen“, sagt er. „Also habe ich mich selbstständig gemacht.“ Als Unfallchirurg kümmert er sich um alles. Kaputte Knie, gebrochene Arme, Arbeits-, Schul-, Sportunfälle. Wer sich verletzt, landet bei Giensch. Doch auch als Proktologe macht sich der Harburger Chirurg schon früh einen Namen. Dafür hatte sein Mentor am AK Harburg, Prof. Bay, gesorgt. „Bay hatte keine Lust auf den Bereich Enddarm“, erinnert sich Giensch. „Also hat er zu mir gesagt: Manfred, mach du den Hintern.“

Er hätte das als Abwertung empfinden können. „Stattdessen habe ich es als Herausforderung angenommen“, sagt Giensch. Er wird Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Coloproktologie, tritt dem Berufsverband der Coloproktologen, der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie sowie der Deutschen Gesellschaft für Viszeralchirurgie bei. Schon bald wird ihm klar, dass er viele operative Eingriffe nur im Rahmen einer Klinik durchführen kann. Er brauchte mit seiner Praxis eine Anbindung an ein Krankenhaus.

2008 gründete Giensch den Deutschen Chirurgenkongress

Also wendet er sich Anfang der 1980er- Jahre ans Mariahilf mit der Bitte, dort als externer Chirurg Patienten operieren zu dürfen. „Die Idee, dass niedergelassene Ärzte an Kliniken ihre Dienste anbieten, war damals völlig neu“, sagt Manfred Giensch. „Und wir haben damit für viel Unmut bei den angestellten Chirurgen gesorgt.“ Doch Giensch ist einer, der mitreißen kann. Und vermitteln. Um eine größere Lobby für seine Idee zu schaffen, gründet er gemeinsam mit Kollegen den Berufsverband der niedergelassenen Chirurgen, dessen Vorsitz er von 2000 bis 2003 innehat. „Wir müssen unter einem großen chirurgischen Dach in Deutschland arbeiten“, so lautet seine Botschaft. Er besucht Kongresse, hält Vorträge und versucht, auch die Gegenseite, den Berufsverband der Deutschen Chirurgen, zu gewinnen.

2008 gründet er den Deutschen Chirurgenkongress, eine Veranstaltung, die beide Verbände zusammenbringen soll. Bei der Etablierung der Veranstaltung kommt ihm eine Zufallsbegegnung zugute. Bei einem gemeinsamen Abendessen mit dem ehemaligen CDU-Generalsekretär Volker Rühe, den er seit Schulzeiten kennt, ist auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer zu Gast. Dieser bietet ihm spontan an, bei der Kongresseröffnung die Hauptrede zu halten. Von da an ist das Eis gebrochen. Giensch hat alle Seiten überzeugt.

„Ich mag es, Netzwerke zu schaffen, Kräfte zu bündeln und Menschen, die gemeinsam etwas erreichen können, zusammenzubringen“, sagt er. Aus dieser Motivation heraus beteiligt er sich auch an der Gründung des Praxisnetzes Süderelbe in der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg. Und er entwickelt die Idee von einem Gesundheitszentrum in Harburg, in der viele Fachrichtungen unter einem Dach eng zusammenarbeiten. 2005 ist das Gebäude Am Wall fertig. Giensch zieht mit seinem Kollegen Elmar Schäfer in die neuen Räume ein, baut das medizinische Angebot unter dem Namen „Chirurgie Süderelbe“ als Gemeinschaftspraxis weiter aus.

Er genießt den beruflichen Erfolg. Doch die Sehnsucht danach, am Profireitsport teilzuhaben, bleibt. „Irgendwie muss ich mein medizinisches Wissen doch mit der Reiterei verbinden können“, denkt er. Wie, das zeigt sich 2006, als die deutsche olympische Reiter-Equipe anfragt, ob er als Mannschaftsarzt die Sportler zu betreuen wolle. „Das war wie ein Sechser im Lotto“, sagt Manfred Giensch. Seitdem steht er rund um die Uhr für die reiterliche Vereinigung zur Verfügung.

Alles scheint perfekt. Doch dann ereilt die Familie ein schwerer Schicksalsschlag. Ehefrau Gabi erleidet einen Schlaganfall. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl, braucht rund um die Uhr Betreuung. Die Familie rückt enger zusammen. Sohn Florian tritt als Partner in die Praxis ein. Und sein Vater lernt, nach und nach die Zügel aus der Hand zu geben. Seit 2014 ist er offiziell nur noch in Teilzeit tätig. Und jetzt soll ganz Schluss sein.

Ruhestand also? Rente? Manfred Giensch grinst und schaut auf sein Smartphone. „Ein paar Aufgaben bleiben ja noch“, sagt er. Soeben ist eine Nachricht eingegangen. Einer der Reiter hat sich am Knöchel verletzt. Der Arzt hat ihn krankgeschrieben. „Wenn er nicht an den Start geht, verpasst er die Olympiaqualifikation“, sagt Giensch. „Ich an seiner Stelle wäre mit der Verletzung aufs Pferd gestiegen.“ Und dann schreibt er als Sportler und Arzt in Personalunion zurück: „Daumen hoch. Du kannst starten.“