Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Hamburger Michel. Seine Kolumne erscheint zweiwöchentlich im Hamburger Abendblatt
Vor der Markt-Apotheke in Neugraben sitzt der ältere Mann auf einem Klapphocker. Vor sich eine Dose und Plüschtiere. Er bettelt. Ab und zu gebe ich ihm einen Euro. Aber ich kenne ihn nicht. Ich weiß nichts von ihm. Ich habe ein ungutes Gefühl dabei. Eigentlich bin ich sogar hin- und hergerissen. So was nennt man ein Dilemma.
Dieses Dilemma beschreiben zwei Männer, die sich professionell um Obdachlose kümmern. Der eine vertritt die Pro-Seite, der andere die Contra-Seite. Der Erstere ist der Obdachlosenseelsorger von Bremen, Harald Schröder. Der Zweite ist der Heilsarmee-Major Alfred Preuß in Siegen.
Schröder empfiehlt, sich in die Situation von Bettlern hineinzudenken. Die meisten Bettler bitten still um Geld. Es sei für ihn schwierig, aggressives oder gar bandenmäßiges Betteln zu erkennen. Aber sicher lebt keiner von den Bettelnden freiwillig oder gern so. Auch diejenigen nicht, die als Elendszuwanderer aus Rumänien und Bulgarien kommen. Für sie ist Obdachlosigkeit und Betteln besser als zu Hause ein Leben in Not zu fristen. Ich weiß auch, dass für einen erheblichen Teil der Bettelnden die „Sitzung“ die einzige Einnahmequelle ist. Schröder kritisiert, dass es nicht genügend staatliche, kirchliche oder sonstige Hilfsangebote gibt. Wohl wahr! Aber Verständnis und Toleranz hören für mich da auf, wo Bettelnde Passanten belästigen oder aggressiv werden. Schröders Vorschlag, mit den Bettelnden ins Gespräch zu kommen, halte ich für bedenkenswert. Nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Um ihnen zu signalisieren: „Ich sehe dich!“ Bettler und Obdachlose haben ein Gesicht. Ich füge hinzu: Und eine Würde. Wichtiger als Geld sei ein ehrliches Wort. Als Zeichen der Zuwendung. Schröder sagt aber auch: „Sie dürfen ohne schlechtes Gewissen kein Geld geben.“ Im Übrigen ist es nicht möglich zu erkennen, ob das gegebene Geld vertrunken oder Brot dafür gekauft wird. Die Unsicherheit bleibt. Die unguten Gefühle auch. Die Bettler stören durch ihre sichtbare Armut den schönen Schein der Innenstädte und die Konsumwelt. Deshalb gilt für Schröder: „Geben ist erlaubt.“
Besonders problematisch: Das Betteln durch Banden
Der Major der Heilsarmee, Alfred Preuß, ist dagegen, Bettlern Geld zu geben. Geld helfe nicht weiter. Er habe selbst erlebt, dass Geld allzu oft in Drogen- und Alkoholkonsum fließt oder die Spielsucht verstärkt. Das Betteln durch Banden findet er besonders problematisch. Er beruft sich auf Berichte, nach denen Kinder regelrecht abgerichtet werden, um trickreich Geld zu erbetteln. Das Geld müssen sie beim Bandenchef abgeben. Das sei kriminell und menschenverachtend.
Er selbst habe auch schon mit Lebensmittelpaketen geholfen, wenn jemand an seine Tür kam. Aber das habe er dann mit der Einladung in das Begegnungscafé verbunden. Dort könne den Ursachen der Not auf den Grund gegangen und nach Lösungsmöglichkeiten gesucht werden, damit die Menschen wieder auf die Füße kommen.
Wir dürfen die Augen vor der Not nicht verschließen
Als Beispiel nennt er die Schuldnerberatung. Zu Recht betont er: Wir dürfen die Augen vor der Not nicht verschließen, die sich hinter der Frage nach Geld oder einem Fahrschein verberge. Deshalb gilt für ihn: „Almosen nein – helfen ja.“
Dem stimme ich im Grundsatz zu. Aber das Dilemma löst sich nicht so glatt auf. Grundsätze sind wichtig. Aber es müssen sich aus ihnen konkrete und organisierte Lösungsmöglichkeiten entwickeln. Deshalb ist der Verkauf von „Hinz & Kunzt“-Zeitungen durch Wohnungslose so sinnvoll. Darum habe ich mich für die Tagesaufenthaltsstätte HERZ AS eingesetzt, damit sie ein Hoffnungsort wird. Das Winternotprogramm der Stadt Hamburg ist ebenso wichtig wie es die gut 100 Suppenküchen und die Hamburger und Harburger Tafeln sind. Aber auch die inzwischen vielen Angebote haben eine Kehrseite, die das beschriebene Dilemma noch verstärkt. Je mehr getan wird für die Menschen in Not desto mehr Hilfesuchende werden angezogen. Am Ende bleibt die Einsicht, dass wir mit der materiellen und seelischen Not von anderen Menschen werden leben müssen. Im Übrigen ist Betteln so alt wie es Menschen gibt. Dennoch: Ich will weiterhin Bettlern Geld geben. Obwohl ich weiß, dass das Geld auch falsch verwendet werden kann.
Ich habe dem Bettler von der Neugrabener Markt- Apotheke wieder einen Euro gegeben. Aber ich habe auch mit ihm gesprochen. Jeden zweiten Tag kommt er von Bremervörde nach Neugraben. Er wohnt dort in einem Gebiet mit vielen Asylbewerbern. Denen geht es schlecht. Keiner kümmert sich um sie. Die Kinder sind sich selbst überlassen. Sie beschmieren und zerstören alles.
Er möchte da weg und nach Neugraben ziehen. Aber ihm fehlt das Geld. Ich frage ihn nach seinen Beschwerden. „Beine und Rücken schmerzen, die Augen werden immer schlechter. „Danke, Herr, dass Sie mir zugehört haben.“ Dafür bedankt er sich. Das Gespräch ist ihm wichtiger als das Geld.
Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Hamburger Michel. Er lebt in Hausbruch. Seine Kolumne erscheint im Zwei-Wochen-Rhythmus in den Regionalausgaben Harburg Stadt und Land des Hamburger Abendblattes