Der Harburger Taxifahrer wurde vor 30 Jahren erstochen. Sein Tod löste Harburgs größten Trauerkorso aller Zeiten aus. Zeitzeugen erinnern sich

Es ist einer der spektakulärsten Fälle der Harburger Kriminalgeschichte: Der junge Taxifahrer Thomas Chrappek (32) war in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember 1985 von einem Fahrgast, den er von Neugraben-Haubruch nach Moisburg in die Diskothek „Mic Mac“ fahren sollte, heimtückisch ermordet worden. Der Unbekannte stach ihn nieder und raubte ihm sein Portemonnaie. Der 32-jährige starb auf dem Weg ins Krankenhaus Buchholz.

Thomas Chrappek, ein lebenslustiger, dunkelblonder Typ mit Bart, meistens in Jeansjacke, hinterließ einen Sohn. Thore war damals acht Jahre alt. Der ominöse Taxifahrermord war der erste und bisher einzige an einem Harburger Taxifahrer überhaupt. Das Verbrechen wurde bis heute nicht aufgeklärt – ein so genannter „Cold Case“.

Es ist Sonnabendnacht, 7. Dezember 1985 Uhr. Thomas Chrappek, ein ehemaliger Zeitsoldat, der in Harburg in der Thörlstraße lebt und am Wochenende als Aushilfsfahrer arbeitet, um sich sein Studium zu finanzieren, hat bereits zehn Touren hinter sich. Um 22.30 Uhr hat er ein Ehepaar zur Nachtvorstellung ins Kino nach Neugraben gebracht. Kurz darauf, um 23.10 Uhr, ruft sein mutmaßlicher Mörder von der Telefonzelle am alten Hausbrucher Bahnhof aus ein Taxi. Kurz darauf steigt er in den elfenbeinfarbenen Mercedes 240 D von Thomas Chrappek ein.

Wenig später, gegen 23.30 Uhr, sieht ein Autofahrer im fahlen Scheinwerferlicht an der Straße zwischen Moisburg (Kreis Harburg) und Immenbek bei Hollenstedt (Kreis Stade) einen Mann unter einem Baum. Der Mann winkt. Der Autofahrer glaubt in der Dunkelheit, es handle sich um einen Betrunkenen – und fährt weiter. Dann ruft er die Polizei.

Zeitzeugen: Harburgs erste Taxifahrerin und erste Taxi-Funk-Mitarbeiterin Dora Brandenburg (86) und ihr Sohn, der ehemaliger Taxifahrer Wolfgang Brandenburg (66)
Zeitzeugen: Harburgs erste Taxifahrerin und erste Taxi-Funk-Mitarbeiterin Dora Brandenburg (86) und ihr Sohn, der ehemaliger Taxifahrer Wolfgang Brandenburg (66) © HA | Jörg Riefenstahl

Unterdessen halten zwei junge Hamburger bei dem winkenden Mann. Es ist Thomas Chrappek. „Ich bin Taxifahrer. Man hat mich überfallen“, haucht er ihnen mit tonloser Stimme entgegen. Die jungen Leute laden den Schwerverletzten in ihr Auto und rasen los. Wenig später stirbt der schwer verletzte Passagier in ihrem Wagen – auf dem Weg ins Krankenhaus in Buchholz. „Ich war geschockt, als ich hörte, dass Thomas tot ist. Zumal es ein so junger Kollege war“, erinnert sich der Harburger Taxifahrer Wolfgang Brandenburg (66), einer von Chrappeks damaligen Kollgen, der in derselben Nacht Taxi fuhr. Das Weihnachtsgeschäft lief auf vollen Touren. „Thomas ist immer nachts gefahren. Immer am Wochenende“, erinnert sich Brandenburg, den viele Harburger noch als langjährigen Chef von Funktaxi Harburg kennen, wo schon in den 60er-Jahren seine Mutter Dora (86) am Funk saß. „In der Mordnacht hat mich die Zentrale angerufen. Ich soll sofort kommen“, sagt Brandenburg.

Taximord in Harburg
Taximord in Harburg © HA | HAN-Archiv/Wichmann

Es ist kurz nach halb zwölf Uhr nachts, als Wolfgang Brandenburg dort ankommt. Er erfährt, dass Thomas Chrappek überfallen worden sei. Er habe wohl den Notrufknopf unter der Lenksäule betätigt, meint Brandenburg. Damit waren damals alle Taxis ausgestattet. Gegen Mitternacht erscheint die Polizei in der Funkzentrale. „Zwei Herren in Zivil. Sie sagten, sie kommen aus Buchholz. Sie wollten nur ein paar Sachen wissen. Sie sprachen nur von einem Überfall“, sagt Brandenburg.

„Die Klinik hat angerufen. Die haben uns Bescheid gesagt“

Nachdem sich die Beamten verabschiedet haben, stellt sich heraus, dass der Taxifahrer tot ist. „Die Klinik hat angerufen. Die haben uns Bescheid gesagt“, sagt Brandenburg. „Das war so gegen 2 Uhr.“ Daraufhin gerät alles in helle Aufregung. „Wir waren alle geschockt, fassungslos“, sagt der Taxifahrer. „Hamburger Taxifahrer Opfer eines Raubmordes“ titelt das Hamburger Abendblatt am nächsten Tag. „Taxifahrer aus Harburg wurde erstochen“, berichtet die „HAN“. In den folgenden Tagen und Wochen dreht sich in Harburg alles um ein Thema: den Raubmord an Chrappek.

Viermal hatte der Mörder auf den jungen Mann eingestochen. Mit einem so spitzen Gegenstand, dass kein Blut austrat. Im Taxi findet die Polizei keine Blutspuren. Der Fall bietet Raum für Spekulationen. „Wurde der Taxifahrer in seinem Taxi ermordet? Oder wurde er erst aus dem Wagen gelockt und dann tödlich verletzt?“ sind Fragen, die die Menschen bewegen.

Der oder die Täter stellen den 123er-Mercedes, den Thomas Chrappek gefahren hatte, noch in der Mordnacht in Elstorf-Bachheide ab. Zwei Stunden, nachdem der Schwerverletzte zwischen Immenbek und Moisburg gefunden worden war, entdecken Polizisten es in einer Wohnsiedlung. Die Ermittlungen ergeben, dass der Mercedes 240 D mit dem Kennzeichen HH ZU 38, der dem Harburger Taxiunternehmer Heinrich Quast in Francop gehört, um 0.45 Uhr dort abgestellt worden war.

„Der Wagen stand kurz vor der B3. Der Zündschlüssel steckte“, erinnert sich Quast (75), für den Thomas Chrappek etwa ein Jahr gearbeitet hatte. Das Flickenportemonnaie des ermordeten Taxifahrers mit 220 Mark, eine Schachtel Camel-Zigaretten und ein Einweg-Feuerzeug nahmen die Täter mit. „Demnach muss der Mörder ein Raucher gewesen sein“, mutmaßt Brandenburg.

„Es war die letzte Schicht, die unser Aushilfsfahrer damals gefahren ist“, verrät Quast. „Er wollte aufhören, weil er sich selbstständig machen wollte. Eine Speditionsfirma gründen, im Hamburger Hafen. Aber dazu ist es nicht mehr gekommen.“ Auch sein Kollege Horst Dittfeld kann sich noch sehr gut an Thomas Chrappek erinnern. Dittfelds Sohn Matthias und Chrappeks Sohn Thore gingen zusammen in die private Kita „Harburger Zwerge“ in der Marienstraße. „Thomas war gelernter Speditionskaufmann und Zeitsoldat gewesen. Ich habe ihm damals geraten, einen Taxischein zu machen“, erinnert sich der Harburger Taxifahrer. „Und dann passiert so etwas...“

Die Anteilnahme der Taxifahrer ist grenzenlos

Die Anteilnahme der Taxifahrer am Schicksal ihres ermordeten Kollegen ist grenzenlos. Um ihre tiefe Trauer zu zeigen, rollen zehn Tage nach dem Raubmord weit mehr als 100 Taxifahrer aus Harburg, Hamburg, Lübeck und dem Süderelberaum in einem kilometerlangen Konvoi von der Schwarzenbergstraße über den Harburger Ring und die Bremer Straße zur Beisetzung ihres Kollegen am Neuen Friedhof. An der Spitze des Konvois lenkt Heinrich Quast den Mercedes 240 D, in dem Thomas Chrappeks Mörder saß. Auf der Motorhaube ein Blumengesteck.

„Es sind sogar Taxifahrer aus Wuppertal angereist“, erinnert sich Brandenburg „Die Friedhofskapelle war viel zu klein. Viele mussten draußen stehen.“ Zum Leichenschmaus verteilt sich die riesige Trauergemeinde aus Platzgründen auf drei Gaststätten: „Zur grünen Tanne“, „Heitmanns Höh“ und „Blockhaus“ in der Bremer Straße.

Für Thore, den Sohn des Ermordeten, haben die Taxifahrer 7000 Mark gesammelt. Das Geld soll in eine Ausbildungsversicherung für den Jungen fließen. Die Polizei setzt 5000 Mark Belohnung zur Ergreifung des Täters aus. Doch die Fahnder der zwölfköpfigen Sonderkommission der Kripo Buxtehude tappen im Dunkeln. Alle Spuren verlaufen im Sande.

Die Obduktion ergibt, dass Chrappek mit einem spitzen Messer oder einem Schraubenzieher erstochen wurde. Zwei Anrufern, die sich kurz darauf selbst des Mordes an Thomas Chrappek bezichtigen, misst die Polizei keine Bedeutung bei. Selbstbezichtigungen gebe es immer, betont ein Kripobeamter.

Die Polizei sucht weiter. Nach zwei Männern, die in der Tatnacht gegen 2 Uhr in Eversen Heide – unweit des Fundortes des Taxis – versucht haben, ein anderes Taxi anzuhalten. Die Täter? Heinrich Quast geht fest davon aus, dass mehrere Täter an dem Raubmord beteiligt waren: „Die haben ihn unter einem Vorwand gebeten, anzuhalten. Dann haben sie ihn aus dem Auto gelockt. Das wars.“

In die Trauer der Taxifahrer mischt sich Wut. Mitte der 80er-Jahre wird in Hamburg im Schnitt jeden Monat mindestens ein Taxifahrer überfallen – auch in der Nacht, in der Thomas Chrappek starb. Insgesamt 19 Fälle registrierte die Hamburger Polizei allein im Jahr 1985. Der Ruf nach Bewaffnung wird laut. Obwohl die meisten Taxifahrer bereits einen Gummiknüppel und eine Gaspistole an Bord haben und viele unbemerkt einen Funknotruf absetzen können.

Nachdem am Neujahrstag 1986 auch noch der Taxifahrer Jochen Schulte bei Hollenstedt von Fahrgästen erstochen wird, fordern die großen Funkzentralen ihre Mitglieder auf, sich von den Fahrgästen bei Auswärtstouren den Ausweis zeigen zu lassen und die Nummer durchzugeben, damit im Ernstfall nachvollzogen werden kann, wer mitgefahren ist. Der Aufruf verläuft im Sande.

Während die Polizei im Mordfall Jochen Schulte wenig später den Tatverdächtigen Frank M. (24) dingfest machen kann, bleibt der Mordfall Thomas Chrappek bis heute ungelöst. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stade wurden am 28. Juli 1986 eingestellt. „Es war nicht gelungen, einen Täter zu ermitteln“, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Breas. Die Ermittlungen könnten jederzeit wieder aufgenommen werden, wenn sich neue Hinweise auf den oder die Täter ergeben. Selbst ein Tatverdächtiger konnte bis zum heutigen Tage „trotz intensiver Nachforschungen nicht ermittelt werden“, so Breas.

Alle Spuren wurden 2004 nochmals ausgewertet – ohne Ergebnis. „Derzeit sind hier keine neuen Ermittlungsansätze bekannt“, sagt Breas. Gleichwohl finden bei der Polizei immer mal wieder Recherchen zu Alt-Fällen statt, aus denen sich weitere Ermittlungsansätze ergeben könnten. Ob der Kriminalfall Thomas Chrappek indes jemals gelöst werden wird, steht in den Sternen.

Vielen Harburgern lässt er aber keine Ruhe. „Thomas war ein lockerer Typ. Er hatte eine Clique: Die jungen Taxifahrer sind zusammen Essen gegangen oder haben zusammen Pausen gemacht“, sagt Brandenburg. „Ich habe Thomas gekannt. Meine Ex-Freundin Elke, mit der ich Ende der 70er Jahre zusammen war, war später seine Lebensgefährtin“, ergänzt der Harburger Handwerker Thomas Ennenga. Noch kurz vor dem Raubmord habe er Chrappek bei seinem „Stammgriechen“ im Phoenixviertel gesehen. „Er saß allein am Tresen“, sagt Ennenga. Heute befindet sich in dem Eckhaus die Bar „Metropol.“

„Ich hoffe, der Mörder hatte ein schlechtes Leben“

Ennenga glaubt nicht, dass Chrappeks Mörder nach all den Jahren noch gefasst wird. „Ich hoffe, dass der Mörder wenigstens ein schlechtes Leben gehabt hat“, sagt er. Taxifahrer Horst Dittfeld schüttelt ebenfalls den Kopf: „Es müsste schon ein großer Zufall sein.“ Aus Sicht von Heinrich Quast gibt es ein Fünkchen Hoffnung: „Wenn der Täter sich verrät, könnte es sein, dass man ihn kriegt.“ Und Taxifahrer Wolfgang Brandenburg glaubt: „Irgendwann ist jeder dran. Es kann doch sein, dass der Mörder ein Geständnis macht, kurz bevor er stirbt. Das hat es schon öfter gegeben. Ja, das kann durchaus sein.“

Als „Cold Case“ („kalter Fall“) wird ein Verfahren im Bereich der Schwerkriminalität bezeichnet, bei dem die Ermittler auch nach einem Jahr zu keinem Ergebnis gekommen sind. Jedes Jahr werden in Deutschland zehn bis 20 Mordfälle nicht aufgeklärt.

Da Straftaten wie Mord nicht verjähren, werden die Ermittlungen nicht selten nach einer gewissen Zeit wieder aufgenommen. Solche „Cold-Case“-Ermittlungen werden in der Regel von Spezialeinheiten übernommen.

In Hamburg rollt die Ende
2016 gegründete „Cold-Case-Unit“ ungelöste Kriminalfälle
neu auf. Das vierköpfige Team kann bereits einen Erfolg
verbuchen: Der Mord an einer 25-jährigen Postangestellten
aus dem Jahr 1978 wurde
anhand forensischer Mittel
aufgeklärt.

Nachdem Übergriffe auf Taxifahrer und Taxifahrermorde in den frühen 60er-Jahren immer mehr zugenommen hatten, erließ der damalige Verkehrsminister Georg Leber (SPD) 1966 die so genannte Trennwandverordnung. Bis zum 1. Januar 1968 mussten alle Kraftdroschken mit einer kugelsicheren Trennwand ausgestattet werden, die aus Panzerglas bestand. Es gab auch eine elektrisch versenkbare Luxusausführung. Außerdem wurden Alarmanlagen in Taxis Pflicht.

Durch die Panzerglasscheibe wurde der Platz im Taxi für Fahrgäste und Taxifahrer stark eingeschränkt: Große Fahrer konnten ihren Sitz nicht weit genug nach hinten schieben. Im Sommer gab es Probleme mit der Belüftung des Taxis. Bei starkem Abbremsen bestand eine hohe Verletzungsgefahr, denn eine Gurtpflicht auf den Rücksitzen gab es nicht. Außerdem litt die Kommunikation zwischen Fahrer und Fahrgast unter der Trennscheibe.

Prominentes Opfer der Trennscheibe war der TV-Entertainer Peter Frankenfeld, der in Wedel wohnte. „Es passierte am 28. August 1968, auf der Fahrt zum Hamburger Flughafen“, erinnert sich Dora Brandenburg, Harburgs erste Taxifahrerin. Der Taxifahrer konnte einem Lkw, der ihm die Vorfahrt genommen hatte, nicht ausweichen. Die Panzerglasscheibe war herabgelassen. Frankenfeld schlug mit dem Kopf auf den Rahmen – und brach sich das Jochbein.

Nach dem Vorfall
und auf Druck der Taxiunternehmer wurde die Trennscheibenverordnung 1969 wieder aufgehoben.
Die meisten Unternehmer bauten die bis zu 2000 Mark teuren Konstruktionen in ihren Autos schnell wieder aus – auch, weil ihr hohes Gewicht den Spritverbrauch
in die Höhe
trieb
.