Harburg . Abteilungsleiter der Sparkasse Lüneburg arbeitet eine Woche lang in der DRK-Einrichtung in Langenbek mit.

Sanft zieht Steffen Wilcke die zierliche alte Dame am Arm und begleitet sie aus ihrem Zimmer auf den Flur. Seit Kurzem lebt Gertrud Habedank im Harburger Hospiz am Blättnerring. Die 77 Jahre alte Berlinerin ist sterbenskrank. Das weiß sie, und sie hat es akzeptiert. Sie lebt für den Moment. Ihre Augen leuchten. Und genießt so gut es geht ihre letzten Tage.

Steffen Wilcke hilft mit im Hospiz. Dort hat er die alte Dame kennengelernt. Eigentlich ist Steffen Wilcke Bereichsleiter bei der Sparkasse Lüneburg. Für eine Woche hat der Manager seinen Führungsjob als Ansprechpartner für Firmen- und Unternehmenskunden an den Nagel gehängt, um als Teilnehmer der Aktion „Hamburger Seitenwechsel“ eine neue Lebenswelt kennenzulernen.

„Es ist faszinierend, zu sehen, wie hier alles Hand in Hand läuft. Alles greift ineinander“, sagt der hochgewachsene Mann und strahlt. Montagmorgen um 8 Uhr begann für ihn im Hospiz die erste Schicht. Service in der Küche: Toastbrote belegen – mit Lachs, Wurst, Käse. Oder süße Sachen. Je nachdem, was sich die einzelnen Gäste im Hospiz gerade wünschen. „Es ist so ein bisschen wie in einem Fünf-Sterne-Hotel“, sagt Wilcke.

„Die Mitarbeiter kennen die Vorlieben der Gäste. Es gibt eine Tafel, auf der steht, wer was besonders mag. So habe ich im Service gleich sehr viel über die Menschen erfahren, die hier leben“, sagt Wilcke. Die ,Gäste’ heißen so, weil sie nur für begrenzte Zeit im Hospiz sind – in aller Regel bis zu ihrem Tode.

Im Harburger Hospiz des DRK sind  zwölf  Zimmer belegt. Ein Zimmer bewohnt Gertrud Habedank (77). Steffen Wilcke führt die alte Dame  über den Flur. „Ich freue mich immer, wenn er vorbeischaut.“
Im Harburger Hospiz des DRK sind zwölf Zimmer belegt. Ein Zimmer bewohnt Gertrud Habedank (77). Steffen Wilcke führt die alte Dame über den Flur. „Ich freue mich immer, wenn er vorbeischaut.“ © HA | Jörg Riefenstahl

Der „Mann von der Bank“, wie ihn die Mitarbeiter im Hospiz gern liebevoll nennen, ist in sämtliche Arbeitsabläufe und in den Schichtbetrieb eingebunden. Am Dienstag war er erstmals bei der medizinischen Übergabe dabei. Wilcke packt mit an, er bezieht Kopfkissen neu, begleitet die Gäste beim Toilettengang. Oder serviert das Dessert.

Wilcke nimmt sich Zeit, er spricht mit den Menschen, die hier ihre letzten Tage erleben. „Ich spüre die Organisation gar nicht. Alles läuft unaufgeregt, im Hintergrund“, erzählt er. „Das Team, das hier arbeitet, motiviert sich von innen. Es ist der Urbegriff von Schwarm-Intelligenz: Jeder fühlt sich verantwortlich, packt an, nimmt die Menschen an die Hand, sobald jemand etwas braucht. Ich habe hier ein perfektes Team vorgefunden.“

Dass 20 Prozent Ehrenamtliche im Hospiz mitarbeiten und der Betrieb dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – so gut läuft, hat Wilcke überrascht. „So ein Modell ist aber in der Sparkasse schwer vorstellbar. Gleichwohl genießt das Ehrenamt in der Förderung bei uns einen hohen Stellenwert.“

Zeit zu haben für die Gäste im Hospiz, sie kennenzulernen, ihre Lebensgeschichte zu erfahren, erfülle ihn mit großer Dankbarkeit. „Ich genieße den Freiraum, mit den Gästen und ihren Angehörigen zu sprechen und Antworten zu bekommen auf die Fragen, die mich bewegen.

Wann hat man dazu sonst Gelegenheit?“, sagt der Familienvater, der mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Winsen lebt. Es sei Neugier gewesen, die ihn bewogen habe, den Seitenwechsel im Hospiz anzutreten. Menschen einmal hautnah zu erleben, die den letzten Weg angetreten haben. Und zu sehen, wie das Umfeld ist.

Die hellen Räume, die positive Atmosphäre, der liebevolle Umgang und die Zugewandtheit haben Wilcke überrascht. Und er hat sehr persönliche Einblicke gewonnen. „Manche, die hier sind, haben ein buntes Leben gehabt. Sie haben abgeschlossen und leben nur noch im hier und jetzt“, erzählt er. „Andere denken, sie gehen hier wieder raus. Und manche erzählen mir, was sie im Leben versäumt haben. Sie wurden von der Endlichkeit des Lebens überrannt.“

Gertrud Habedank hat im Frühjahr ihren Mann verloren. Sie weiß, dass sie nur noch wenige Tage leben wird. Ihre Schwiegertochter aus Hamburg kommt oft zu Besuch. Auf dem Tisch steht ein Hochzeitsbild. Ob Weihnachten Schnee liegt, ist Gertrud Habedank egal: „Dann bin ich nicht mehr da.“ Früher habe sie bei den Brandenburger Stahlwerken gearbeitet, erzählt sie. Ihre Augen leuchten voller Stolz. „Ich habe Computer mit Lochkarten gefüttert.“

Im Hospiz schreibt die alte Dame kleine Verse in Reimform. „Die könnt ihr lesen, wenn ich tot bin“, sagt sie. Steffen Wilcke serviert ihr ein Eis. Er nimmt ebenfalls Platz. „Mmmh! Hier, essen Sie doch mit. Ich habe keine ansteckenden Krankheiten“, sagt die Dame und reicht Wilcke einen Löffel.

Was machen die neuen Erfahrungen im Hospiz mit dem Seitenwechsler? „Ich spüre eine Veränderung. Es geht in Richtung: mehr Achtsamkeit, Wertschätzung, Demut“, sagt Wilcke. In seiner Welt dreht sich naturgemäß alles um Zahlen.

„Ich komme aus einem sehr rationalen Bereich. Ich kann mir vorstellen, der Emotionalität dort künftig mehr Raum zu geben. Es ist wichtig, den Kunden auf der emotionalen Ebene zu erreichen, um letztlich bessere Ergebnisse zu erzielen.“ Vom „Seitenwechsel“ ist Wilcke vollkommen überzeugt: „Er fördert die soziale Kompetenz zu 100 Prozent. Ich kann das jedem nur empfehlen.“

An diesem Sonnabend tritt Wilcke im Hospiz zur letzten Schicht an. Bisher hat er noch nicht erlebt, wie ein Mensch gestorben ist. „Eine gewisse Unsicherheit ist da, eine Spannung“, sagt er. Als wir uns verabschieden, will Gertrud Habedank von mir wissen, wann dieser Artikel erscheinen wird. „Hoffentlich lebe ich dann noch“, sagt sie und lächelt.

Dann hält sie inne, nimmt meine Hand, schaut mir in die Augen und flüstert: „Das Hospiz, es ist mein letzter Ort. Hier geh’ ich nicht mehr lebend fort. Die Krankheit, sie ist Schuld daran, dass ich nicht nach Hause kann.“