Winsen. Stadt, Land, Praxisheißt das bundesweit einmalige Programm, das inzwischen seit fünf Jahren läuft.
Der Weg bis zur eigenen Praxis ist lang: Medizinstudium, praktische Ausbildung und Facharztweiterbildung erstrecken sich über viele Jahre. Zuweilen ist der Weg auch weit: Als Lutz und Sara Rütter erste Kontakte zum Landkreis Harburg knüpften, waren beide noch in der Schweiz tätig.
Dass Lutz Rütter nun in einer Winsener Praxis als sogenannter Weiterbildungsassistent tätig ist und anstrebt, 2018 eine eigene Praxis zu eröffnen, ist nicht nur Ergebnis eines längeren Entscheidungsprozesses, sondern vor allem einer innovativen Kampagne, die der Landkreis Harburg vor nunmehr fünf Jahren gestartet hat.
Mit dem Programm „Stadt Land Praxis“, das federführend vom Sozialdezernenten Reiner Kaminski geleitet wird, hat der Landkreis 2011 die Initiative ergriffen, um aktiv gegen den drohenden Hausarztmangel anzugehen. Die Ausgangslage war damals, dass bis 2020 etliche Ärzte das Pensionsalter erreicht haben werden, ohne dass deren Nachfolge geregelt ist. Würde der Landkreis nicht gegensteuern, drohte eine massive Unterversorgung mit Allgemeinmedizinern beziehungsweise Hausärzten.
Aber wie bekommt man junge Mediziner aufs Land, wo doch alles in die Städte drängt und der Beruf des Landarztes heute vom dem in der gleichnamigen Fernsehserie gemalten Idyll weit entfernt ist? Die Vermittlung von niedergelassenen Ärzten allein reicht da nicht. Und so ist „Stadt Land Praxis“ ein umfangreiches Paket, das Aus- und Weiterbildung, Stellenvermittlung, Beratung, Austausch mit Kollegen und Unterstützung bei Kinderbetreuung oder Fördermitteln enthält.
Das entspricht nicht nur dem Zeitgeist, sondern auch der Realität im medizinischen Bereich: Rund 70 Prozent der Medizinstudenten sind Frauen, und auch sie müssen irgendwann Familie und Beruf vereinbaren können. Daher vermittelt Stadt Land Praxis Ärztinnen mit Kindern erfolgreich in Teilzeitanstellung. Eine Option, die auch für Familie Rütter interessant werden könnte. Das Paar hat sich während des Studiums kennengelernt, und früher als geplant wurden die Rütters Eltern.
Sara Rütter ist deswegen zurzeit in Teilzeit beschäftigt und spezialisiert sich auf Innere Medizin. Ob sie später ambulant oder stationär tätig sein wird, ist noch nicht entschieden. „Allerdings ist Teilzeit in Krankenhäusern wegen des Schichtdienstes schwerer zu organisieren. Somit gibt es nur begrenzte Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit“, sagt Lutz Rütter.
Dass die Entscheidung, in welche Richtung die Medizinerkarriere gehen soll, langwierig ist, weiß Reiner Kaminski aus den vielen Gesprächen, die er mit den Interessenten führt. Auch mit den Rütters ist er schon seit 2014 im Gespräch. Der Kontakt kam übers Internet zustande.
„Ich habe tatsächlich ganz einfach gegoogelt“, sagt Lutz Rütter. Er stammt aus Recklinghausen, hat seine Leipziger Frau beim Studium in Halle kennengelernt. Zusammen waren sie in St. Gallen (Schweiz) zur Weiterbildung, wollten aber zur Familiengründung zurück nach Deutschland. Die Kriterien waren: Angemessene Entfernung zu beider Familien und eine attraktive Region. Hamburg, aber auch Lüneburg, waren dabei durchaus bevorzugt.
In die kleinere Hansestadt zog es Lutz Rütter zunächst. Als Weiterbildungsassistent war er ein halbes Jahr an der psychiatrischen Klinik Lüneburg tätig. Das war Pionierarbeit: „Die hatten noch nie einen Allgemeinmediziner“, sagt Rütter. Seit Oktober ist er nun in einer Winsener Praxis angestellt. Weiterbildungsassistenten sind Ärzte, die noch in der Facharztausbildung sind. Diese dauert sechs Jahre und besteht je zur Hälfte aus stationärer und ambulanter Tätigkeit.
Auch hier gibt es eine Schnittstelle zu Stadt Land Praxis, denn die kreiseigenen Krankenhäuser Buchholz und Winsen machen mit beim Projekt, und ebenso die Waldklinik Jesteburg auf der einen Seite und auf der anderen 80 niedergelassene Hausärzte im Landkreis, die sich prinzipiell vorstellen können, über Stadt Land Praxis Ärzte einzustellen oder ihnen ihre Praxis später zu übergeben.
Weitere Unterstützer sind die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen und die Kommunen im Landkreis, denn zum Projekt gehört es auch, gute Rahmenbedingungen für die Ärzte zu schaffen. So helfen die Behörden bei Bedarf auch bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Baugrundstück oder auch einem Kindergartenplatz.
Auf Seiten des Landkreises ist es die Aufgabe von Reiner Kaminski, für die Initiative zu werben und Ansprechpartner für die Interessenten zu sein. Dabei hat sich in fünf Jahren schon einiges als besonders erfolgreich herausgestellt, anderes als überflüssig. Gute Ergebnisse liefern die Infostände bei Karrierebörsen, aber auch die Plakatkampagne. Die großflächige Werbung wird deutschlandweit an Medizinhochschul-Standorten platziert. Hinzukommen Newsletter, Presseberichte und als Herzstück die Homepage.
Unterstützt wird Kaminski von der Personalberaterin Sabine Klein, die für Stadt Land Praxis ehrenamtlich arbeitet. Sie weiß, dass man einen langen Atem braucht: „Im Erstgespräch kommt es noch zu keiner Vermittlung, sondern erst nach dem zweiten oder dritten Kontakt.“ Reiner Kaminski berichtet auch von einem Interessenten, der zunächst lieber Oberarzt im Krankenhaus sein wollte und sich dann aber doch für den Landkreis Harburg entschieden hat.
„Die Interessenten stellen fest, dass wir immer noch da sind, während Initiativen anderer Landkreise schon wieder verpufft sind“, ergänzt Sabine Klein. Zudem würden andere Landkreise die Suche nach Hausärzten nicht als ihre Aufgabe ansehen.
Reiner Kaminski, der sich nicht nur als Werber für Ärzte, sondern auch für den Landkreis Harburg ansieht, sagt: „Die medizinische Versorgung ist ein wichtiger Punkt für einen familienfreundlichen Landkreis. Ich denke, was wir hier machen, ist einmalig in Deutschland.“ Das zeige sich auch in einem Dankesschreiben eines Neu Wulmstorfer Arztes, der Anfang 2012 die erste Stadt-Land-Praxis-Ärztin eingestellt hat.
Auch die nächste Erfolgsgeschichte bahnt sich an: Andrea Wenske ist über Stadt Land Praxis in eine Winsener Arztpraxis vermittelt worden, in der sie seit 2012 angestellt ist. Das Programm war ihr von einer Kollegin, mit der sie in der Asklepios Klinik Harburg gearbeitet hatte, empfohlen worden.
Mittlerweile plant Andrea Wenske die Praxis, in der sie arbeitet, 2017 zu übernehmen und sucht mit Hilfe von Stadt Land Praxis eine Bewerberin dafür. „Ohne Stadt Land Praxis hätte ich wohl weiterhin in der Klinik gearbeitet. Aber meinen jetzigen Job möchte ich nicht mehr tauschen“, sagt sie.