Harburg. Pastor Helge Adolphsens Gedanken zu Silvester: Was wir zurücklassen und was wir ins neue Jahr mit hinübernehmen möchten.
Da sind sie wieder, die Jahresrückblicke in allen Medien. Die Jahrbücher mit den eindrücklichsten Fotos aus 2015. Die Ansprache der Bundeskanzlerin heute Abend. Mit Rückblicken und Ausblicken. Versuche, zu sortieren, Schneisen zu schlagen in das Dickicht von so vielen Ereignissen und Meldungen. Alle Jahre wieder.
Feuerwerk vor Mitternacht, Böller und Knallerei. Nicht mehr wie früher Krach machen mit Schellen und Peitschenknallen. Damals noch, um die bösen Geister zu vertreiben, die besonders in dieser Nacht ihr gefährliches Unwesen treiben. Heutzutage soll so in festlicher Ausgelassenheit die Vorfreude auf das Neue Jahr beflügelt werden.
Aber viele haben heute Nacht gemischte Gefühle. Wie immer, wenn wir eine besondere Schwelle überschreiten. Da gilt es, Abschied zu nehmen vom Vertrauten, vom alten Jahr. Erinnerungen verdichten sich, belastende und schöne. Was hat das Jahr gebracht? Aufbrechen, mit Vorfreude oder Sorgen. Was wird werden? Schwellenangst, Verunsicherung. Aber auch Erwartungen und Hoffnungen.
Was möchte ich selbst gern zurücklassen? Meine Antwort: Alle bösen Geister. Solche, die wie in Neugraben-Fischbek ihr Unwesen getrieben haben. Eine Initiative sorgte sich darum, dass die Unterkunft am Aschenland mit 3500 Flüchtlingen Sprengstoff für die Zukunft des Stadtteils werden könne. Eine berechtigte Sorge. Sie verhandelten moderat. Die Frau des Sprechers wurde im Supermarkt beschimpft, ihr Mann als „Scheiß-Nazi-Fratze“ betitelt. Das Ehepaar erhielt Morddrohungen. Sie wollen aus Neugraben wegziehen. Sie fühlen sich dort nicht mehr sicher.
Wo Menschen aggressiv und gewaltsam agitieren, sind böse Geister am Werk. In diesem Jahr wurden 68 Brandanschläge verübt, gab es vier Mal so viel Übergriffe auf Asylbewerberunterkünfte als 2014. Auch die kleinen oder lauten Demagogen, Angstschürer und Hasssäer möchte ich gern im alten Jahr zurücklassen.
Aber auch diejenigen, die sagen, „Früher war alles besser.“ Alles sauberer, ordentlicher. War weniger Gewalt, gab es weniger Kriminelle. Viele klagen über die Verrohung der Sitten. Sie resignieren. Und haben Angst. Zu Unrecht, wie man es einem Artikel dieser Zeitung vor 14 Tagen entnehmen konnte. Darin wurden seriöse und namhafte Wissenschaftler zitiert. Sie sagen, dass es früher brutaler zuging. Aber heute erfahren wir viel mehr als früher über Ereignisse in hintersten Winkeln der Welt. Früher hörte niemand, wenn in Afrika ein Stamm gegen einen anderen Krieg führte. In der Steinzeit kam jeder fünfte Mensch gewaltsam ums Leben. Heute sind es noch 0,7 Prozent. Heute gibt es nur halb so viel Arme wie vor gut 100 Jahren. Die Welt ist wahrlich noch kein Paradies. Aber sie ist besser als wir meinen. Ein gutes Mittel gegen Resignation und Klagen ist das Ernstnehmen von Fakten und Zahlen. Wir sollten eine Art freiwillige Selbstkontrolle ausüben. Aufklärung kann uns helfen, Kontrolle über die eigenen Gefühle und Ängste zu gewinnen. Wer immer nur sagt, dass man in dieser Welt nicht mehr leben oder keine Kinder mehr haben könne, muss sich nicht wundern, wenn er in dieser Welt nicht mehr leben mag.
Und was möchte ich mit ins neue Jahr nehmen? Als erstes die für mich eindrücklichsten Worte des Jahres 2015. Worte des französischen Journalisten, dessen Frau bei den Anschlägen in Paris getötet wurde. Er ist jetzt allein mit dem sieben Monate alten Sohn.
Er sagte: „Ich weiß nicht, wer ihr seid, und ich will es auch nicht wissen, ihr seid tote Seelen. Wenn dieser Gott, für den ihr blindlings tötet, uns nach seinem Bild gemacht hat, dann muss jede Kugel im Körper meiner Frau eine Wunde in seinem Herzen gerissen haben. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger mit misstrauischem Blick betrachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere…“ Das wird er nicht tun. Über seinen Sohn sagt er: „Sein ganzes Leben wird dieser kleine Junge eine Beleidigung für euch sein, indem er glücklich und frei ist.“
Die Widerstandskraft dieses Mannes, seinen unbeirrten Glauben an die Liebe, sein Einstehen für Humanität möchte ich mitnehmen. Auch sein Glück, in Freiheit und ohne Angst zu leben. Mit ins neue Jahr nehmen möchte ich auch die großartige Willkommenskultur, die so viele Ehrenamtliche praktizieren. Ihre Zahl übersteigt die der Asylbewerber. Wunderbar! Sie tun fraglos das eigentlich Selbstverständliche. Sie helfen. Sie packen an. Wenn die Flüchtlinge nach überstandenen Strapazen, nach Todesgefahr und traumatisiert uns vor die Füße gelegt werden, dann haben wir die barmherzigen Samariter zu sein. So einfach ist das. So schön ist unsere christliche Tradition.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen als den Leserinnen und Lesern dieser Gedanken ein glückliches neues Jahr. Das eigene Glück ist nach eben dieser christlichen Tradition nicht denkbar, vor allem nicht lebbar, ohne das Glück, das wir miteinander teilen. Der Mensch ist nicht nur ein Ich, sondern immer auch ein Wir.
Wir sind soziale Wesen. Deshalb freue ich mich über diejenigen, die Kleidung sortieren, Deutschunterricht geben, Feste veranstalten, Fremde bei sich zu Hause aufnehmen. So wird man glücklich. Denn wer Menschen in Not hilft, der erlebt ganz unmittelbar, was sinnvolles und menschliches Leben ist. Nur wer einen Sinn in seinem Leben sieht, kann wirklich glücklich sein. Darauf ruht Segen: Freude, Erfüllung, Zufriedenheit. Und darin liegen Chancen für eine solidarische Gemeinschaft. In 2016 und darüber hinaus.
Der Autor ist emeritierter Hauptpastor des Hamburger Michel