Harburg. Wissenschaftler entwickeln in einem Modellprojekt in Harburg Strategien gegen die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher.

Die Gesellschaft in Deutschland sorgt sich vor einer neuen wachsenden Jugendkultur, die für demokratische Entscheidungsfindung und universelle Menschenrechte nichts übrig hat. Salafismus und Islamismus stehen für eine neue Bedrohung. Ihr Ausdruck sind mehrere hundert Menschen, meist junge Männer, die sich aus Deutschland aufgemacht haben, um für die Terrormiliz Islamischer Staat zu kämpfen.

Die Erforschung muslimischer Jugendwelten steckt noch weitgehend in den Anfängen. Antworten darauf, wie eine Gesellschaft verhindern kann, dass sich muslimische Jugendliche radikalisieren, erhofft sich Deutschland aus dem Hamburger Stadtteil Harburg.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert das Präventionsprojekt “Al Wasat – Die Mitte“, das in diesem Jahr am Islamischen Wissenschafts- und Bildungsinstitut in Harburg gestartet ist. Dabei handelt es sich um ein auf fünf Jahre angesetztes Projekt zur Verhinderung von Radikalismus im Islam. Harburg ist damit Modellstadtteil dafür, wie eine offene demokratische Gesellschaft dem gefährlichen Gedankengut der Islamisten entgegentreten kann.

Dass Harburg diese Aufgabe zufällt, mag manchen wie eine zweite Chance erscheinen. Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September in New York hat der Stadtteil eine traurige Berühmtheit erlangt. Einer der Attentäter, Mohammed Atta, hat in Harburg gelebt und studiert.

Die Bilder seiner Wohnung in der Marienstraße gingen damals um die Welt. Was dagegen kaum bekannt ist: Das auf den interreligiösen Dialog und Fortbildungen spezialisierte Islamische Wissenschafts- und Bildungszentrum hatte in demselben Jahr in dem früheren Harburger Hauptzollamt an der Buxtehuder Straße die Arbeit aufgenommen.

Heute entwickelt ein Team von insgesamt sechs wissenschaftlichen Mitarbeitern um den Projektleiter Ali-Özgür Özdil ein Modell zur Vorbeugung gegen gewaltbereiten Islamismus. Der Modellstadtteil Harburg soll sich dazu so vernetzen, um gemeinsam gegen die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher anzugehen. Im Grunde sehen die Islamwissenschaftler die Antwort auf die islamistische Verführung in der Bildung guter Nachbarschaften.

Geschulte Schlüsselpersonen sollen ein Netzwerk bilden, das überzeugende Antworten gibt, wenn junge Leute in den Einfluss islamistischen Verführer geraten sind. Wie ein 13 Jahre alter Junge aus Wilhelmsburg, der sich plötzlich weigerte, mit Frauen zu sprechen. Seine Schwester, eine Studentin, hatte Ali-Özgür Özdil vor zwei Jahren um Hilfe gebeten.

Der Wissenschaftler musste den Jungen davon überzeugen, dass der Islam das Gespräch mit Frauen nicht verbiete. Eine Strategie im Gespräch mit gefährdeten Jugendlichen sei, sich eine zweite Meinung von einer Autorität einzuholen.

Im Idealfall steht am Ende des Projektes Al-Wasat ein Stadtteil, in dem der Lehrer den Imam trifft, der Imam den Polizisten, das Landeskriminalamt spricht mit einer Mutter, deren Sohn beinahe in den Krieg gezogen wäre, der Jugendzentrumsleiter mit dem Leiter einer Jugendgruppe in der benachbarten Moscheegemeinde.

Der nächste Schritt dazu ist am Donnerstag, 5. November, die Al-Wasat-Konferenz im Bürgerzentrum Feuervogel im Harburger Phoenix-Viertel. Bürger und Experten kommen dabei zusammen, um in kleinen Gesprächsgruppen der Frage nachzugehen, warum sich Jugendliche radikalisieren.

Das Islamische Wissenschafts- und Bildungszentrum hat zurzeit keine Kenntnis von gewaltbereiten muslimischen Jugendlichen in Harburg. Provozierend tritt die etwa sieben Mitglieder umfassende Gruppe Harburg-Darwah in Videos auf, die sich selbst der Salafisten-Bewegung in Deutschland zuordnen.

Die Al-Wasat-Mitarbeiter werden die Öffentlichkeit mit Erkenntnissen überraschen, die auch provozieren dürften. Die wenigsten muslimischen Jugendlichen in Deutschland gehen in eine Moschee und seien religiös. „Nur 35 Prozent besuchen das Freitagsgebet“, sagt Özdil. Der Einfluss der Moscheegemeinden auf muslimische Jugendliche ist demnach kleiner als angenommen. Möglicherweise der von Lehrern und Jugendzentrumsleitern größer als erwartet.

Ali-Özgür Özdil plädiert dafür, Gebetsräume an Schulen oder Jugendzentren zuzulassen, wenn Jugendliche das einfordern. Er schlägt interreligiöse Gebetsräume nach dem Vorbild der Räume der Stille vor, wie sie an internationalen Flughäfen üblich seien. „Jugendliche legen doch an der Schule ihre Religion nicht ab“, sagt der Islamwissenschaftler. Er rät gleichzeitig jungen muslimischen Schülern, nicht auf dem Schulhof in Gemeinschaft zu beten. „Das macht der Schule Angst“, sagt er.

Die Al-Wasat-Mitarbeiter plädieren in solchen Konflikten, gemeinsame Lösungen zu suchen. Lena Çoban warnt davor, dass die Jugendlichen sich sonst aus der gesellschaftlichen Mitte zurückziehen könnten. „Wo geht der Jugendliche hin, wenn er im Jugendzentrum nicht beten darf?“, fragt sie. Denn dann verlören wir die Bindung zu ihm.

Die Wissenschaftler wissen, dass sie Misstrauen gegenüber dem Islam abbauen müssen. Muslime in Deutschland sehen sich oft mit dem Verdacht konfrontiert, irgendwie mit dem Terrorismus verquickt zu sein. Ob er denn nicht mal mit den Terroristen sprechen könne, hat ein Lehrer einmal Ali-Özgür Özdil gefragt. „Gerne“, hat er ihm geantwortet, „aber ich kenne keinen.“

Die Al-Wasat-Konferenz: Warum radikalisieren sich Jugendliche? Austausch und Diskussion mit Experten und Bürgern, Donnerstag, 5. November, 16 bis 20 Uhr, Feuervogel Harburg, Maretstraße 50