Hamburg. Vergebung kann ein Mensch nicht selbst erlangen. Niemand, der andere geschädigt oder gar getötet hat, kann sich selbst „ent-schulden“

In Lüneburg steht ein alter Mann vor Gericht, Oskar Gröning, jetzt 93 Jahre alt. Er hat als SS-Mann mit 22 Jahren an der Rampe in Auschwitz gestanden. Da, wo ungarische Juden selektiert wurden. Einer der letzten Überlebenden vom Nazi-Verbrechern. Im Saal einige der Frauen, die überlebt haben. Medien aus New York und London sind dabei. Kein Wunder. Alles steht noch einmal auf. Eine schreckliche Auferstehung des Bösen und des massenhaften Mordes. Kaum auszuhalten für die Frauen. Unter ihnen Eva Kor, heute 81. Als 10-jähriges Kind wurden an ihr und ihrer Zwillingsschwester medizinische Experimente vorgenommen. Damals hieß es: „Durch die Fremdrassigen wird das Wohl des deutschen Reiches gefährdet.“ Juden waren „unwertes Leben“. Wie die Menschen mit geistiger Behinderung.

Am ersten Verhandlungstag hat der Angeklagte seine moralische Schuld bekannt. An der Selektion und der Ermordung der Juden war er offensichtlich nicht persönlich beteiligt. Nach dem Krieg hat er sich selbstkritisch mit seinem Mittun auseinandergesetzt und sich distanziert von seiner Vergangenheit als SS-Mann.

Einigen Frauen aus der Reihe der Nebenkläger war das nicht ausreichend. „Moralische Schuld zu bekennen genügt nicht. Gröning muss auch seine Schuld im juristischen Sinne anerkennen.“

Am zweiten Verhandlungstag geschah etwas Außergewöhnliches: Eva Kor ging auf den Angeklagten zu und reichte ihm die Hand zur Versöhnung. Eine Geste aus innerer Größe und Großherzigkeit.

Vergebung kann ein Mensch, der sich schuldig gemacht hat, nicht selbst erlangen. Niemand, der andere verletzt, geschädigt oder gar getötet hat, kann sich selbst „ent-schulden“. Er kann nur um Vergebung bitten. Denn Vergebung ist immer ein Geschehen zwischen Zweien. Wenn sein Opfer ihm die Hand zur Versöhnung reicht, ist der Täter in seinem Gewissen entlastet.

Eva Kor hat ihrer Versöhnung eine Erklärung hinzugefügt: „Meine Versöhnung spricht den Täter nicht frei.“ Zu Oskar Gröning gewandt sagte sie: „Ich hoffe, dass Sie und ich, ehemalige Gegner, uns als Menschen begegnen können.“ Ausdrücklich betonte sie, dass sie ihre Erklärung nur für sich und in ihrem Namen abgebe. Und das zu Recht.

Beispielhaft ist das Vorgehen der alten Frau noch in einer anderen Hinsicht. Sie hat zwischen der Person von Gröning und seiner Tat unterschieden. Als Menschen hat sie ihn und seine Würde geachtet. Diese Unterscheidung ist ein Grundsatz aus unserer jüdisch-christlichen Tradition. Er beinhaltet die unbedingte Würde jedes Menschen und zugleich den unbedingten Respekt vor ihm. Die Würde eines Menschen ist unantastbar, auch die eines Verbrechers, sogar eines Massenmörders. Auch die Richter in Lüneburg werden sich dran halten. Da bin ich sicher.

Eva Kor hat über Grönings Taten und seine Verstrickung in das hundert-tausendfache Morden kein Urteil gefällt. Das steht allein nur dem Gericht zu. Deshalb war der Prozess mit ihrer Versöhnung nicht zu Ende. Den Richtern obliegt es, alle Zeugen zu befragen und nach Beweisen für Schuld oder Nichtschuld in juristischem Sinn zu forschen und ggf. das Strafrecht anzuwenden.

Aber nun gibt es Streit. Im Namen der 99 Nebenkläger, alle Überlebende von Auschwitz, betonen ihre Anwälte, dass sie an ihrer Klage festhalten. Sie können Gröning seine Mitschuld nicht verzeihen, zumal er nur seine moralische Schuld, nicht aber seine juristische bekannt hat. Die Frauen werfen Eva Kor vor, nicht für sie eine Erklärung abgeben zu können. Was sie auch gar nicht getan hat. Sie betont, dass ihre Erklärung keinen juristischen Freispruch bedeute. Sie bleibt weiter konsequent bei sich selbst und bei ihrer persönlichen Versöhnung. Für sie selbst sei das Vergeben ein Akt der Selbstbefreiung und Selbstheilung. In der Sendung mit Günter Jauch im Fernsehen hat sie das für mich überzeugend und authentisch geschildert. Auch wenn die Anwälte das als Show und öffentliche Inszenierung bezeichnen und ihre Geste herabwürdigen. Sie sagte: „Auch wenn jeder Nazi gehenkt würde für sein Verbrechen, mein Leben wäre immer noch das gleiche. Ich wäre noch eine Waise, eine Überlebende schrecklicher Experimente, für die ich den Preis zahlen müsste.“

Sie hatte offensichtlich ein tiefes Verlangen, befreit zu werden von Rachegefühlen und schwelendem Hass, derer sie nicht Herr werden konnte. Ich vermute, sie wollte heraus aus dem Teufelskreis von ewig kreisenden Fragen ohne Antwort, Friedlosigkeit und Aggressionen, ohne Licht am Ende des Tunnels. Sie wollte es für sich. Aber sie hofft es auch für andere, die sich in gleicher oder ähnlicher Situation befinden. Vergeben und Versöhnen ist die Möglichkeit zu verzeihen ohne zu vergessen. Und mit einem befreiten Herzen wieder zu leben. Eva Kor hat die schwere und hohe Kunst der Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten der Öffentlichkeit vor Augen geführt. An der haben wir alle zu lernen: Wir sind mehr als unsere Taten. Jedenfalls vor Gott. Aber es wäre heilsam und befreiend zu beherzigen, dass das auch zwischen Menschen gilt, zwischen mir und anderen. Niemand darf mit seinen Taten identifiziert werden, seien sie auch noch so brutal.

Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Hamburger Michel. Er lebt mit seiner Familie in Hausbruch. Seine Kolumne erscheint im Zwei-
Wochen-Rhythmus in der Regionalausgabe
Harburg&Umland des Hamburger Abendblattes.