Wilhelmsburg. Der Leiter des Kriseninterventionsteams Hamburg erklärt, wie den Augenzeugen des tödlichen Messerangriffs an der Nelson-Mandela-Schule geholfen wurde.
Malte Stüben war einer der ersten, der sich nach dem tödlichen Messerangriff auf einen 17-Jährigen an der Nelson-Mandela-Schule in Wilhelmsburg um die Augenzeugen gekümmert hat. Der 39 Jahre alte Leiter des Kriseninterventionsteams Hamburg erklärt in einem Gespräch mit dem Abendblatt, wie Schüler und Lehrer in den Stunden nach der Tat auf das Unfassbare reagieren.
Hamburger Abendblatt: Um welche Schüler hat sich das Kriseninterventionsteam nach der Bluttat im Klassenzimmer gekümmert?
Malte Stüben: Wir unterscheiden zwischen den Schülern, die erst von anderen oder in den Nachrichten davon erfahren haben und denen, die Augenzeugen geworden sind. Wir filtern die unmittelbaren Tatzeugen heraus. Es ist wichtig, dass sie nach dem potenziell traumatisierenden Erlebnis betreut werden. Wir betreuen und begleiten sie, während sie warten, um von der Polizei befragt zu werden.
Wie verhalten sich Jugendliche, die miterleben mussten, wie vor ihren Augen ein Mitschüler erstochen wurde?
Stüben : Einen tödlichen Messerangriff in der Schule hat noch niemand zuvor erlebt. Es ist zunächst etwas Unfassbares. Die Schüler begreifen nur schwer, was da passiert ist.
Wenn wir kleinen Kindern die traurige Nachricht überbringen, dass ihre Mutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei, erleben wir häufig, dass sie zehn Minuten später wieder in ihrem Zimmer spielen. Dies stellt häufig ein Selbstschutz dar. Bei den Jugendlichen ist es ähnlich.
Sie reagieren nach einem Unglück sehr unterschiedlich. Dabei gibt es kein richtig oder falsch. Jeder reagiert so, wie er es tut. In dieser Altersgruppe bilden die Freunde meist die wichtigste Bezugsgruppe.
Jugendliche haben häufig das Bedürfnis, mit ihren Freunden das Erlebte zu teilen. Ihnen ist es wichtig, mit Freunden zu telefonieren.
Sie haben die jugendlichen Augenzeugen also beim Telefonieren begleitet?
Stüben : Ja, auch. Wir helfen ihnen mit einem Handy aus, wenn sie es in dem Klassenzimmer, dem Tatort, vergessen haben. Wir helfen auch mit etwas ganz Banalem: Essen und Trinken. Kinder und Jugendliche vergessen dies häufig. Wir haben den Schülern Mineralwasser und Schokoriegel gegeben.
Wir leisten Erste Hilfe für die Seele. Bei der Krisenintervention geht es nicht um Trauerbegleitung. Die kommt dann erst zu einem späteren Zweitpunkt.
Wie haben die Lehrer reagiert? Müssen sie anders betreut werden?
Stüben : Lehrer zeichnen sich durch ein großes Verantwortungsbewusstsein für ihre Schüler aus. Sie kümmern sich zunächst um die anderen – so funktionieren Lehrer. Bei ihnen setzen Reaktionen auf das Schockerlebnis häufig zeitversetzt ein.
Welche Reaktionen können sich später zeigen?
Stüben : Das können eine tiefe Traurigkeit, das Gefühl einer Leere oder wiederkehrende Bilder des Erlebten sein. Innerhalb von vier bis sechs Wochen ist das eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis. Wir haben die Schüler und Lehrer aufgeklärt, welche Belastungssituationen auftreten könnten. Die Mitschüler haben das Bild eines blutenden Jungen vor Augen. Das Ereignis ist potenziell traumatisierend.
Müssen die jugendlichen Augenzeugen jetzt Angst haben, dass sie nachts immer dieses Bild sehen?
Stüben : In den allermeisten Fällen verringern sich diese Belastungen und verschwinden. Wer Hilfe braucht: Wir können in ein bis zwei Tagen weiterführende therapeutische Hilfen organisieren.
Wir kennen das Bild nach Attentaten oder schweren Katastrophen aus vielen Ländern: Menschen zünden an Trauerstellen Kerzen an, legen Blumen und Botschaften nieder. Auch an der Nelson-Mandela-Schule gibt es eine zentrale Trauerstelle. Wie wichtig ist so etwas?
Stüben : Die Trauerstelle ist Teil der Verarbeitung. Bei Schülern gibt es den Impuls, Trost in der Gemeinschaft zu suchen. Die Gruppe der Gleichaltrigen ist ihnen enorm wichtig.
Nach dem Absturz der Germanwings Maschine in den Alpen, sind die Angehörigen der Opfer an den Unglücksort gebracht worden. Es ist der Versuch, das Geschehene zu realisieren. Denn der Ort des Unglücks ist real.
Sie sind einer von 40 Kriseninterventionshelfern in Hamburg. Dabei handelt es sich um ein Ehrenamt beim DRK-Kreisverband in Harburg. Sie erleben dabei viel Trauriges. Wer kümmert sich eigentlich um Sie?
Stüben : Wir arbeiten das Erlebte im Team nach. Und wir haben regelmäßig Supervision. Ich weiß das Unglück anderer von dem eigenen Unglück zu unterscheiden.
Aber klar, wir Kriseninterventionshelfer gehen nicht unbelastet aus unseren Einsätzen heraus. Damit kann man auch dem Partner zu Hause nicht kommen, weil es zu belastend wäre.
Haben Sie jemals zuvor mit einem tödlichen Messerangriff in einer Schule zu tun gehabt?
Stüben : Ich arbeite seit 16 Jahren im Kriseninterventionsteam Hamburg mit. Das habe ich noch nicht erlebt.