Stöckte. Tierarzt Peter Beecken beobachtet ein Storchennest per Webcam. Die Bilder sind auch im Internet weltweit zu verfolgen.
Peter Beecken schaltet seinen Fernseher schon vor dem Frühstück ein und erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder aus. Allerdings läuft auf dem Bildschirm des Stöckter Tierarztes auch ein ganz besonderes Programm. Man könnte es „Adebar-TV“ nennen. Denn eine Kamera überträgt Live und in Farbe die Geschehnisse aus dem Storchennest hinter Beeckens Haus. Alle zehn Sekunden wird ein neues Bild vom Horst gesendet.
Das Nest thront hoch über der Erde auf einem Mast. Von unten kann das Refugium nicht eingesehen werden. Die Storchenkamera ermöglicht es aber, jede Bewegung der gefiederten Bewohner zu beobachten. Und zwar nicht nur für Beeckens. Dank Internet kann das Treiben der Stöckter Störche weltweit verfolgt werden. Unter www.tierarzt-beecken.de/component/livecam/ kann man zurzeit dem Vogelpaar beim abwechselnden Brüten zusehen. „Mein Mann ist ein neugieriger Mensch“, erklärt Andrea Beecken die tierische „Big Brother“-Show.
Seit Kindesbeinen hat Peter Beecken Interesse an der Natur. Und seit jeher haben es ihm Störche besonders angetan. „Diese Affinität liegt sicher an meiner Wohngegend. Ich bin direkt am Stöckter Deich aufgewachsen und lebe seit meinem achten Lebensjahr hier an der Hoopter Straße“, erklärt der Doktor, der in seiner Praxis kranke Kleintiere behandelt und zwischen den Sprechstunden kreuz und quer durch die Elbmarsch zu hilfsbedürftigen Großtieren fährt. „Ich komme leider nicht besonders häufig dazu, die Störche zu beobachten.“
1999 hat er auf seinem Grundstück vier Nisthilfen für die majestätischen Schreitvögel errichten lassen. Eine wurde noch im selben Jahr angenommen und ist seither alljährlich besetzt. Auch für die anderen Nester interessieren sich immer wieder Störche. „Aber Nachbarn werden vom alteingesessenen Paar in ihrem Revier nicht geduldet“, erzählt Andrea Beecken. „Das Futter ist ja knapp. Es gibt zu wenige Wiesen und zu viele Raps- und Maisfelder.“
Der Weißstorch ist ein Fleischfresser und ernährt sich von Fröschen, Reptilien, Mäusen, Insekten und ihren Larven, Regenwürmern und Fischen. Daher benötigt er ausgedehnte, extensiv bewirtschaftete Feuchtgebiete und weiträumige, zeitweise überflutete Niederungen. Als sogenannter „Kulturfolger“ nutzt er frisch gemähte Wiesen sowie frisch umgebrochene Äcker und Stoppelfelder zur Nahrungssuche.
Der Bestand der Weißstörche hat in Deutschland aufgrund zunehmender Zerstörung seines Lebensraums durch Absenkung von Grundwasser, Entwässerung, Zerstückelung von Grünflächen durch Wege und Gebäude, Umpflügen von Grünland und häufiges Bearbeiten von Wiesen stark abgenommen. Nach Angaben des Bundesamts für Naturschutz sank die Zahl der Brutpaare von 1930 bis 1990 von 30.000 auf 3000. Danach erfolgte eine leichte Zunahme. Derzeit leben in Deutschland etwa 4300 Brutpaare. Die Elbmarsch gehört zu den vergleichsweise storchenreichen Regionen. „Hier bei uns konzentriert sich der Bestand, insbesondere in Laßrönne, Tönnhausen und Hunden. Dort verläuft deshalb ja auch die Deutsche Storchenstraße“, erklärt Peter Beecken.
„Sein“ Storchennest ist von der Landstraße aus nicht zu sehen. Wohl aber von einem Wirtschaftsweg aus, der in einigem Abstand parallel zur Straße von Winsen quer durch die Wiesen Richtung Hoopte verläuft. In Höhe ihres Anwesens hat Andrea Beecken am Wegesrand einen Glaskasten aufgestellt. Darin hängt, vor dem Regen geschützt, das täglich aktualisierte Beobachtungsprotokoll. „Unglaublich viele Menschen sind daran interessiert. Der Treckerpfad ist dadurch zum Wanderweg geworden.“
Ihre diesjährige Berichterstattung beginnt mit dem Eintreffen des Weibchens am 20. Februar, zwei Tage früher als im Vorjahr. Das frühe Datum deute darauf hin, dass das Winterquartier der Störchin nicht allzu weit entfernt liege, meint Peter Beecken. Zwar sei nicht geklärt, welche Kombination von Umweltkriterien den Zugtrieb letztlich auslöse, aber der Sonnenstand spiele sicherlich eine Rolle. „Vor Mitte Februar fliegen die Störche nicht gen Norden“, glaubt der Veterinär zu wissen. Da er beobachtet hat, dass „seine“ Störche im Herbst gen Südwesten abziehen, vermutet er deren Überwinterungsquartier in Südfrankreich oder Spanien. Immerhin kennt er die ursprüngliche Herkunft des Weibchens aufgrund ihrer Beringung genau. Das Tier stammt aus einer holländischen Storchen-Aufzuchtstation. Auch die Männchen können Beeckens unterscheiden.
Am 23. Februar traf ein männlicher Storch am Nest ein, der sich bereits im Vorjahr für den Horst interessiert hatte, aber von einem anderen vertrieben worden war. Die Idylle gemeinsamen Nestbaus dauerte nur kurz. Am 25. Februar kam der Storchenmann des Vorjahres zurück und vertrieb den Nebenbuhler energisch. Nun bewohnt also wieder das „alte“ Pärchen den Horst. „Störche sind einander nicht treu. Oftmals paaren sie sich jedes Jahr neu. Aber insbesondere Männchen sind stark an ihr angestammtes Nest gebunden“, erklärt Peter Beecken.
So friedlich die Partner miteinander und dem eigenen Nachwuchs umgehen – Attacken auf fremde Störche werden aggressiv geführt und können erhebliche Verletzungen verursachen. Peter Beecken hat schon mehrere Störche verarztet, aber meist kommt seine Hilfe für die geschwächten Vögel zu spät. Auch bei gebrochenen Flügeln ist er überfordert. „Die müssen in eine Klinik“, sagt er. Mehrfach ist er schon mit stark verletzten Störchen 150 Kilometer weit bis zum Nabu-Artenschutzzentrum in Leiferde bei Celle gefahren.
Störche legen drei bis fünf Eier. Maximal vier Jungtiere auf einmal sind auf dem Hof Beecken groß geworden. Wenn das Gedränge im Nest groß ist, kann es vorkommen, dass eines der Jungen abstürzt. „Unter dem Nest steht bei uns ein dichter Jasmin. Wenn ein Jungtier herunter fällt, plumpst es dort hinein und bleibt unverletzt“, erzählt der Arzt. Dank der Kamera bekommen die Beeckens das schnell mit. Dann wird eine Hebebühne organisiert, um den unfreiwilligen Nestflüchter wieder zurück zu setzen.
Wachsen viele Jungtiere heran, besteht noch eine andere Gefahr: Oftmals bekommt das schwächste Junge nicht genügend Futter ab. Auch dieses Drama bleibt Beeckens, die mehrfach täglich einen Blick auf ihren Fernsehschirm werfen, nicht verborgen. Sie haben schon Storchenküken vor dem Hungertod bewahrt, indem sie sie per Hand aufgepäppelten. „Das ist sehr mühsam, weil das Tier ja nicht auf Menschen geprägt, sondern wieder in die Freiheit entlassen werden soll. Wir haben deshalb bei der Fütterung stets Storchenattrappen verwendet“, berichtet Beecken. Wenn das Kleine zu Kräften gekommen sei, gelinge es meistens, es wieder in seine Familie einzugliedern.
Für Altvögel stellt der Tierarzt Futter grundsätzlich nur in Notsituationen bereit. „Die finden normalerweise immer genug, obwohl sie jedes Jahr früher kommen“, ist seine Erfahrung. Nur im Frühjahr 2000 habe es einen derartigen Wintereinbruch mit Frost gegeben, dass er beim Elbfischer Grube Fischreste und Beifang für die Störche gekauft hat.
Zu Beeckens regelmäßigen Dienstleistungen für die Großvögel gehört das regelmäßige Abtragen des Nestes. Störche werkeln nämlich alljährlich an der Brutstätte und bauen das Nest dadurch immer höher, so dass es ohne menschliches Eingreifen zu schwer würde. „Außerdem benutzen die Störche alle möglichen Materialien, auch Plastikfolien, die das Nest abdichten. Wenn es regnet, hocken die Jungen dann bis zum Hals im Wasser oder ertrinken sogar“, sagt Andrea Beecken. Der finanzielle Aufwand für die Anmietung einer zur Nestpflege nötigen Hebebühne ist ziemlich hoch. „Zum Glück sind die Winsener Stadtwerke meist sehr zuvorkommend.“
Neben dem „Storchenvater“ Hans Steinert ist Peter Beecken der Mann in der Elbmarsch, der sich am meisten für Störche begeistert und sich am besten mit dem Wappentier des Naturschutzbunds auskennt. Beim Nabu hofft man deshalb, dass der 62-jährige Tierarzt seinen älteren Vereinskameraden als Storchenbetreuer ablöst. Der schüttelt den Kopf. „Nicht, solange ich meine Praxis habe. Vielleicht übernimmt mein Sohn Hendrik sie ja später mal. Momentan komme ich kaum dazu, auch nur einen Blick auf den Fernseher zu werfen.“
Die Deutsche Storchenstraße führt in der Winsener Elbmarsch am Deich von Neuland bis Laßrönne und von dort entlang des Stroms bis Artlenburg und zurück über Barum und Hunden nach Tönnhausen. Auf der Strecke sensibilisieren Informationstafeln für den Charaktervogel der Elbtalaue. Die Straße ist abschnittsweise besonders gut mit dem Fahrrad zu erkunden. An manchen Nestern dokumentieren „Horstschilder“ den Bruterfolg. Dieser Abschnitt der Storchenstraße gehört übrigens auch zu den „99 Lieblingsplätzen“, die die Metropolregion Hamburg ausgewiesen hat.