Inside SPD Harburg: Seit Monaten wütet ein beispielloser Machtkampf, der längst Grenzen überschritten hat. An diesem Sonnabend wird im Hausbrucher „Jägerhof“ der neue Kreisvorsitzende gewählt.
Harburg. An diesem Wochenende entscheidet sich die Zukunft der Harburger SPD. Am Sonnabend wählen die Genossen ihren Kreisvorsitzenden. Bei der Abstimmung haben die Delegierten aus den acht SPD-Distrikten im SPD-Kreisverband Harburg die Wahl zwischen Amtsinhaber Frank Richter und seinem Herausforderer, dem Bürgerschaftsabgeordneten Matthias Czech aus Süderelbe. Aber für die offensichtlich völlig zerrissene Harburger SPD steht inzwischen weit mehr auf dem Spiel, als die Neubesetzung dieses wichtigen Postens. Mit der Wahl müssen die Delegierten auch darüber entscheiden, wem sie am ehesten zutrauen, den parteiinternen Krieg zu beenden.
Große Hoffnung auf eine Befriedung der Grabenkämpfe haben viele Genossen indes nicht. Czech wird hinter vorgehaltener Hand nachgesagt, er wolle sich mit dem Amt des Kreisvorsitzenden lediglich einen komfortablen Listenplatz für die nächste Bürgerschaftswahl sichern. Der stünde ihm dann als Kreisvorsitzendem zu. Und Richter fehle es schlicht am nötigen Durchsetzungsvermögen.
Die gegenseitigen Anfeindungen jenseits allen Postengeschachers haben längst die sachliche Ebene verlassen. In dieser ganzen Geschichte, so Frank Richter, sei inzwischen eine „Grenze überschritten“, die sich keine Partei leisten könne.
Es gab Zeiten, da galten SPD-Abgeordnete mit Migrationshintergrund noch als Exoten – auch in Harburg. Und diese Zeiten sind noch gar nicht so lange her. Mit dem Wilhelmsburger Bayram Inan saß der erste zu Beginn des neuen Jahrtausends in der hiesigen Bezirksversammlung. Mit den Bezirkswahlen am 25. Mai könnte sich das grundlegend ändern. Auf den Wahlkreislisten finden sich gleich mehrere SPD-Kandidaten mit Migrationshintergrund. Und einer vom ihnen, Muammer Kazanci, könnte sogar Fraktionsvorsitzender werden.
Frank Richter findet den wachsenden Anteil von Migranten in seiner Partei grundsätzlich normal. „Nach neuesten Erhebungen haben 38 Prozent aller Harburger einen Migrationshintergrund. Es muss der Anspruch einer Volkspartei sein, auch diesen Teil der Bevölkerung angemessen zu repräsentieren“, sagt er. Aber tut die Harburger SPD das wirklich? Während in ganz Hamburg die Aussiedler aus Russland und Kasachstan die größte Gruppe der Einwanderer stellen, finden sie sich in der Harburger SPD kaum wieder. Mit Natalja Saling hat es gerade eine einzige Vertreterin auf eine der acht Wahlkreislisten geschafft – in Hausbruch.
Ganz anders sieht das bei Migranten mit türkischen Wurzeln aus, die mit etwa 11.000 ein Fünftel aller Harburger Zuwanderer stellen. Doch bei ihnen ist, im Gegensatz zu den Russlanddeutschen, der Wille zu Macht und Einfluss deutlich ausgeprägter. Und zwar so sehr, dass dies bei alteingesessenen Parteimitgliedern zu wachsendem Argwohn und einer regelrechten Verunsicherung geführt hat.
„Es ist zutreffend, dass sich Migranten vermehrt für Politik interessieren“, bestätigt Muammer Kazanci. In der SPD seien sie bei ihrem Engagement auch gut aufgehoben: „Weil diese Partei ihnen ein Angebot macht, sich aktiv einzubringen. Weil sie hier respektiert sind und weil sie ernst genommen werden.“
So ist es seit Mitte 2012 in Harburg zu massenhaften Neueintritten gekommen. 160 bis 180 Mitgliedsanträge hat der Kreisvorstand registriert. Üblich seien aber nur etwa 40 pro Jahr, in Wahljahren auch etwas mehr, sagt Frank Richter. Die überwiegende Mehrzahl der Harburger Neumitglieder hätte zudem Migrationshintergrund, allein ein Drittel entfalle auf Antragsteller mit türkischen Wurzeln. Ganze Familien seien darunter gewesen, so Richter.
Allein 50 Prozent dieser Zugänge wurden in Neugraben und Harburg-Mitte verzeichnet. Offenbar kein Zufall: Es sind mit 200 und 140 ohnehin die mitgliederstärksten Distrikte der Harburger SPD. Und damit auch am einflussreichsten, wenn es um die Besetzung der wichtigsten Posten in Fraktion und Kreisvorstand geht.
Im Vorfeld der Bezirkswahlen ist es gerade in diesen beiden Distrikten zu bemerkenswerten Abstimmungen gekommen. Sowohl bei der Benennung der Delegierten für die Besondere Versammlung zur Aufstellung der Bezirksliste, als auch bei der Kür der Wahlkreiskandidaten.
Als sich die Genossen des Distrikts Neugraben-Fischbek am 18. Februar im Deutschen Haus an der Bergheide 1 treffen, um ihre Delegierten für die Besondere Vertreterversammlung am 28. Februar zu wählen, ist der Andrang ungewöhnlich groß. Eigentlich hätten die Delegierten bereits in der Woche zuvor benannt werden sollen. Die Wahl hatte jedoch „wegen Einladungsfehlern vertagt werden müssen“, wie es offiziell heißt.
Normalerweise finden sich zu solchen Anlässen 35, bestenfalls 50 Mitglieder ein. Am Abend des 18. Februar sind es 76. Es bleibt nicht der einzige ungewöhnliche Umstand. Viel bemerkenswerter ist die Tatsache, dass namhafte und verdiente Genossen wie Bezirksamtsleiter Thomas Völsch, Heinz Beeken, Henning Reh, Thea Goos und Ursula Schnoor nicht delegiert werden. Dafür aber Mitglieder, die weder über annähernde Reputation noch Erfahrung verfügen. Und Mitglieder, die erst seit kurzer Zeit zur SPD gehören. Heinz Beeken sieht sich hernach in seinem Beschluss vom Sommer vergangenen Jahres bestätigt, der Kommunalpolitik den Rücken zu kehren: „Was hier passiert, mag ich nicht mehr mittragen.“
Der Umbruch in den Reihen der Süderelbe-SPD hatte sich schon bei den vorangegangenen Wahlkreiskonferenzen für die Wahlkreise 6 (Neugraben-Fischbek Ost und Elbdörfer) und 8(Neugraben-Fischbek West) angedeutet. In beiden Fällen landeten mit Holger Böhm und Pinar Aba hier sowie Arend Wiese dort Kandidaten auf den Spitzenplätzen, die dem Zirkel um Kacanzi, dem ehemaligen Bezirksamtsleiter und Ex-Fraktionschef Michael Ulrich, sowie dem Vorsitzenden des Distrikts Hamburg-Ost, Thorsten Fuß, zugerechnet werden.
Fuß gilt als Drahtzieher und Mehrheitsbeschaffer mit „pathologischem Selbstbewusstsein“, wie ihm erstaunlich viele seiner zahlreichen innerparteilichen Kritiker attestieren. Doch das ficht den stämmigen „Großmeister der Intrige“, so ein Heimfelder Sozialdemokrat, nicht an. Er könne jedes Parteiamt südlich der Elbe haben, wenn er nur wolle, sagt der Rönneburger über sich. Er stand schon bei mehreren Bürgerschaftsabgeordneten als Mitarbeiter in Lohn und Brot, hat bereits etlichen sozialdemokratischen Mandatsträgern als Steigbügelhalter in den Sattel geholfen – und einige aus selbigem gekippt.
2002 hat Fuß noch mit dafür gesorgt, Ulrich als Kreisvorsitzenden zu demontieren. Schnee von gestern. Jetzt machen sie gemeinsame Sache. Denn es geht augenscheinlich darum, gänzlich neue Machtverhältnisse in der Harburger SPD zu schaffen. So überrascht es nicht, dass Fuß auch bei den Wahlkreiskonferenzen der Süderelbegenossen im Deutschen Haus weilt.
Mehr noch: Mehrere Anwesende haben dem Abendblatt bestätigt, dass er versucht hat, die wahlberechtigten Mitglieder gezielt zu beeinflussen. Fuß selbst bestreitet, überhaupt anwesend gewesen zu sein. Diese Behauptung, so Fuß dem Abendblatt gegenüber, sei Zeichen dafür, dass ihn „einige in der Partei fertig machen" wollten.
„Solche Einflussnahme ist höchst ungewöhnlich und wirft natürlich Fragen auf“, sagt Manfred Schulz, Vorsitzender der Bezirksversammlung und SPD-Distriktschef im benachbarten Hausbruch: „Dass sich distriktfremde Genossen woanders in Abstimmungen einmischen, ist nicht üblich und wäre, so es zutrifft, ein Unding.“
Das sieht auch Frank Richter so: „Sollten sich diese Vorwürfe erhärten, muss das Konsequenzen haben.“ Darüber müsse aber der neue Kreisvorstand befinden, der jetzt gewählt wird. Für Fuß wären Sanktionen derweil nichts Neues. Gerade erst hat er ein Parteiordnungsverfahren überstanden. Mehrere weibliche Fraktionsmitglieder, darunter Ronja Schmager, hatten sein rüdes, anmaßendes Verhalten beklagt.
Als letztes, ultimatives Zeichen für die ausufernden Grabenkämpfe in der Harburger SPD gilt unterdessen der Umgang mit dem amtierenden Fraktionschef Jürgen Heimath. Der will im Wahlkreis Harburg/Neuland/Gut Moor als Spitzenkandidat kandidieren, sieht sich aber unversehens von Martin Semir Celik herausgefordert.
Und der worst case tritt ein: Heimath, der der SPD bei der vorangegangenen Bezirkswahl allein 20.000 Stimmen beschert hatte, unterliegt Celik, einem engen Freund von Ulrich und Kazanci, mit 11 zu 14 Stimmen. Auch auf den Plätzen zwei, drei und fünf finden sich Kandidaten mit Migrationshintergrund.
Wochen später wird Celik als zugewählter Bürger aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen. Er steht wegen des umstrittenen Genehmigungsverfahren für das Platinum Event Center an der Lauterbachstraße am Pranger. Es ist das erste Mal, dass sich die SPD-Fraktion in Harburg für solch eine extreme Reaktion entscheidet. An seiner Kandidatur für die Bezirkswahl hält der glücklose Geschäftsmann Celik indes fest.
„Was mit Heimath passiert ist, war ein gravierender politischer Fehler“, so Richter. Der mit dem Kreisvorstand aber dafür gesorgt hat, Heimath zumindest auf Platz eins der Bezirksliste zu hieven. Der 67-Jährige, der die Fraktion seit 13 Jahren führt, wollte eigentlich kürzer treten. Doch nun sieht er sich selbst in der Pflicht. „Auf solch eine Art lasse ich mich nicht abservieren. Hier laufen Dinge, die nicht akzeptabel sind und der Partei schaden“, sagte er dem Abendblatt.
Kazanci, im eigenen Wahlkreis Heimfeld nur auf Platz fünf gelandet, konnte sich derweil mit Platz drei auf der Bezirksliste trösten. Weil die Netzwerker Fuß und Ulrich – der mit Kazanci und Celik auch zu den treibenden Kräften der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt gehört – für genügend genehme Distriktsvertreter gesorgt hatten, konnte sich Kazanci eine Kampfkandidatur gegen Frank Richter leisten. Die hat er mit 40:35 für sich entschieden. Ironie der Geschichte: Dass Kazanci überhaupt in der Fraktion Fuß fasste, hat er maßgeblich Richter zu verdanken.
Als der Stadtteil Wilhelmsburg 2008 im Zuge der Verwaltungsreform dem Bezirk Hamburg-Mitte zugeordnet wurde, waren Wilhelmsburger Abgeordnete wie Bayram Inan plötzlich Mitglieder der Bezirksversammlung Mitte. „Also habe ich mich dafür eingesetzt, dass wieder ein Kandidat mit Migrationshintergrund einen sicheren Platz auf der Bezirksliste der Harburger SPD erhält“, sagt Richter. Kazanci, der intelligente Volljurist und einstige Sozietätspartner von Michael Ulrich, schien dafür genau der richtige Mann.
Ob Richter das heute noch genau so sieht, darf bezweifelt werden. Nicht nur, dass Kazanci als brillanter Wahlkampf-Organisator Metin Hakverdi im Vorjahr den Weg in den Bundestag nach Berlin ebnete, vorbei an dem in der Ur-Wahl gescheiterten Frank Richter. Nun greift der Vertraute Hakverdis, der die Vorgänge in der SPD Harburg nicht kommentieren will, auch noch nach der Macht in der Harburger Fraktion.
Sollte die SPD nach den jüngsten Konfliktthemen Platinum Event Center und Einrichtung des Flüchtlingscamps in Bostelbek ihre absolute Mehrheit in der Harburger Bezirksversammlung verlieren, dürfte der Ruf nach einer personellen Erneuerung umso größer werden.
Einen ersten, wichtigen Fingerzeig, wohin die Reise geht, wird die Kreisdelegiertenkonferenz am Sonnabend im Hausbrucher „Jägerhof“ geben. Seine Kampfkandidatur um den Kreisvorsitz hat Matthias Czech so begründet: „Ich bin in großer Sorge um den Zustand der Harburger SPD. Die vielfältigen Probleme zu lösen, traue ich Frank Richter nicht zu“, sagte Czech dem Abendblatt.
Pikanterweise hat der Eißendorfer die umstrittene Distriktsversammlung in Neugraben geleitet. Dass er dem Lager um Thorsten Fuß und Michael Ulrich zugerechnet wird, überrascht nicht. Die Empfehlung seines Distrikts, Muammer Kazanci auf Platz drei der Bezirksliste zu setzen, hatte er so kommentiert: „Kazanci hat bewiesen, dass er Harburgs Entwicklung in die Hand nehmen kann. Er soll auch in Zukunft eine herausragende Rolle in der Harburger Kommunalpolitik spielen.“