Gänseschwärme bis zu 100.000 der streng geschützten Vögel sind jetzt in Kehdingen. Was Naturfreunde freut, ist für die Landwirte ein Problem.
Freiburg/Balje/Neuhaus. Für Naturfreunde ist das Außendeichgelände zwischen Freiburg und Balje an der Unterelbe mit tausenden rastenden Wildgänsen alljährlich eine besondere Erlebniswelt. Im Herbst kommen riesige Vogelschwärme aus dem hohen Norden, teils zum Auftanken ihrer Energiereserven für den Flug in den sonnigen Süden oder um zu überwintern. Der größte Teil der Wintergäste sind Grau,- Brand – und Nonnegänse. Gänseschwärme bis zu 100.000 der streng geschützten Vögel sind jetzt in Kehdingen. Was Naturfreunde freut, ist für die Landwirte ein Problem.
Dass diese Gänseschwärme unbehelligt auch auf landwirtschaftlichen Nutzflächen grasen können, haben sie den Politikern der Europäischen Union in Brüssel zu danken. Sie wiesen die Flächen in den Außendeichbereichen als Teil des europäischen Schutzgebiet-Netzes „Natura 2000“ aus. Sowohl als Brutgebiet für inzwischen selten gewordene Vogelarten wie Kampfläufer, Rotschenkel und Uferschnepfe, als auch für Rastvögel hat das Gebiet inzwischen nationale, ja sogar internationale Bedeutung.
Deshalb erarbeiteten Vertreter der Landwirtschaft und Naturschutzbehörde für das „Natura-2000“-Gebiet eine flächendeckend geltenden Vereinbarung und beschritten einen für Niedersachsen neuen Weg, so Kreisbaurat Bode vor einem Jahr. Wie der Stader Kreislandwirt Johann Knabbe sagt, ist der Vertrag, der in der zweiten Jahreshälfte 2013 unterzeichnet werden sollte, allerdings „noch nicht unter Dach und Fach“.
Denn derzeit sei es so, dass die Landwirte die Gänse durchfüttern müssen.
„Es gibt schon Bedenken, warum ein gemeinsames Bekenntnis der Gesellschaft zum Naturschutz von den Landwirten finanziell allein getragen werden soll“, sagt Knabbe. Sie müssen die geschützten Gänse dulden, auch wenn sie teilweise die gesamte Wintersaat wegfressen, schildert Knabbe die Situation der Landwirte. Etwa 300 bis 800 Hektar seien von Fraßschäden und Vogelkot teilweise schwer geschädigt. Und weil Gänse nach deutschem Recht als Wild gelten, fehlt ein Programm für Entschädigungen der Landwirte. „Weder das Land Niedersachsen noch der Bund oder die EU haben für den seit Jahren schwelenden Streit eine gesetzliche Lösung, die beiden Seiten gerecht wird“, sagt Knabbe.
So werden inzwischen auch kritische Stimmen laut, die Fragen aufwerfen, ob Schwärme von rund 80.000 bis 100.000 Nonnengänse noch schutzwürdig sind, weiß Knabbe. Immerhin sei die Zahl der Rastgäste in den vergangenen 20 Jahren von etwa 5.000 um das Zwanzigfache gestiegen.
Allein rund 80.000 Weißwangengänse, auch Nonnengänse genannt, fressen sich während ihrer Winterrast auf den Grünflächen Reserven für den Flug in die Brutgebiete in der Arktis und am russischen Eismeer an, dazu kommen Grau-, Nil- und Kanadagänse. Im vergangenen Jahr gab es auf rund 400 Hektar bestellten Ackerflächen in Kehdingen Totalverluste, so Knabbe. Mit etwa 600 Euro pro Hektar werden die Schäden der Landwirte für verlorenes Saatgut und Winterbestellung beziffert. Allerdings seien die Fraßschäden nie als konstante Größe zu sehen. Es gebe Jahre, in denen aufgrund der Witterung, etwa auf lange zugeschneiten Ackerflächen und Vegetationszustand kaum Schäden registriert werden. So könne man die Spanne von überhaupt keinem Verlust bis auf etliche 100.000 Euro nie vorhersehen.
Dennoch stehen die Kehdinger zu dem Vogelschutzgebiet vor ihren Höfen. Weil die Wildgänse auf den Kehdinger Grünlandflächen frisch gekeimte Weizenpflanzen und andere Keimlinge wegen ihres hohen Eiweiß- und Energiegehaltes bevorzugen, wollen viele Kehdinger Bauern ihre Kulturen auf Maisanbau umstellen.
Dem zwischen Kreisbauernverband Stade und Kreisverwaltung erarbeiteten Vertrag zum Naturschutz im international bedeutenden Vogelschutzgebiet am Kehdinger Elbe-Ufer hatte der Umweltausschuss des Kreistages im Frühjahr dieses Jahres zugestimmt.
In dem Vertrag verpflichten sich die Landwirte unter anderem, das für die typische Vogelwelt des Elbufers lebenswichtige Grünland, Wiesen und Weiden zu erhalten und nicht zusätzlich zu entwässern. Auch Knallapparate zum Vertreiben der Wildgänse und -enten, sollen nicht mehr zum Einsatz kommen.
Wenn die rund 80 Landwirte, um deren Flächen es geht, diesen Vertrag unterzeichnen, werde der Landkreis Stade auf eine hoheitliche Sicherung der Flächen in Form von Landschafts- oder Naturschutzgebieten verzichten, so der Landkreissprecher Christian Schmidt.
Hintergrund ist, dass etwa 10.000 Hektar des EU-Vogelschutzgebietes und des FFH-Gebietes Unterelbe nach Fauna-Flora-Habitat-Richtlinien der EU im Raum Kehdingen bisher nicht als Schutzgebiet ausgewiesen oder durch gleichwertige Vereinbarungen geschützt sind. Dies verlangt aber die Europäische Union für die Flächen nördlich des historischen Winterdeiches zwischen Oste und der Elbinsel Asselersand bei Drochtersen.